Vom Geschmack der Plätze

■ Was bedeutet Berlin für diejenigen, die in Berlin schreiben? Bemerkungen von Michael Wildenhain

Im Klo hängt ein Kalender. Literatur. Zwei Jahre alt. Das Blatt auf dem Kalender, das schon seit Wochen dort vergilbt, zeigt das Gesicht von Heinar Kipphardt. Neben dem Kopf, darin die Zigarette – schwarzweiß vor blauem Hintergrund – stehen sechs Sätze, in denen er die Antwort gibt auf die gestellte Frage: was mir die Großstadt bedeutet, für mein Schreiben.

Natürlich läßt sich vieles sagen. Ganz allgemein: Ich lebe dort. Ein wenig theoretischer: In der Großstadt – in Berlin – zeigt sich die Gesellschaft unverstellter. Damit der Zustand kenntlich wird, reicht es oft aus, sich einen Tag auf einen U- Bahnhof zu setzen. Beispielsweise: Hermannplatz. Und es genügt, an einem Samstagvormittag in irgendeinem Supermarkt – in einem der nicht ganz so guten Viertel – die immer Abgehetzten und häufig schon Verhärmten hinter und vor den Registrierkassen etwas genauer anzuschauen. Man kann auch demonstrieren gehen. Denn, noch einen Hauch abstrakter: In den Großstädten beginnen die sozialen Kämpfe. Dort kommt die Gesellschaft zu sich selbst.

Alles das ist richtig. Es stimmt sogar. Außerdem schreibt auch Heinar Kipphardt von ganz bestimmten Vierteln und ganz bestimmten Wohnungen. Trotz des nur kurzen Textfragments weiß man, was und wen er meint.

Dennoch ist die eigentliche Antwort auf die Frage einfacher, konkret. Nicht allgemein und auch nicht theoretisch. Und gerade deshalb läßt sie sich nicht ganz so einfach geben. Vielleicht – und das wäre zum Beispiel das der Literatur Eigene – anstelle dessen nur beschreiben.

Ein Viertel, eine Kreuzung, ein Platz oder ein U-Bahnhof, an dem man täglich abends aussteigt. Man läuft die Treppenstufen hoch und riecht schon, obwohl gegenüber der U-Bahnzug verbrauchte Luft aus einem Stückchen Tunnel schiebt, den eigenen Geruch des Bahnsteigs – des Platzes, jener Kreuzung, an diesem U-Bahn- Ausgang und keinem anderen. Und nun kann man auch schon den eigenen Geschmack des Viertels, noch ehe er, vermischt mit Licht und letzten, braunen Abendwolken, scharf wie das Neon der Reklame präsent ist, auf den Lippen spüren. Man meint, das tägliche Gemisch – noch ahnt man erst ein bißchen Himmel – zu sehen, sieht die Autoströme, die Sammlung der Geschäfte, Gerüche, Telefonzellen. Von einer lappt seit Tagen schon ein unansehnliches Plakat, ohne endgültig abzufallen. Man schaut, ob an der Treppe noch immer die vertrauten Gestalten nach den Groschen fragen, blickt, nur um sich zu vergewissern, ins Eckschaufenster mit Korsetts, Orthopädie und Gummistrümpfen und wählt im Kopf den Imbiß aus, an dem man etwas essen wird, kennt das Ensemble der Gebäude, die Straßenzüge, Hinterhöfe, glaubt sogar, die Gedanken der an der Ampel Wartenden für einen Augenblick zu wissen – taucht auf, spürt einen Luftzug und findet sich am richtigen, dem einzig richtigen Ort.

Ich liebe die Vorstädte im Morgengrauen, wenn der Himmel noch durchsichtig und der Asphalt feucht von der Nacht ist. Die Sonne wagt sich nicht hervor, und in den Arbeiterwohnungen brennt Licht. Die staubfreie Luft riecht nach Meer, nach Morgenkaffee und Messerschärfe. Straßen, Häuser, Himmel schillern perlmuttfarben wie frisch gefangene Fische. Ein Schiff ruft, eine Fabrik pfeift, ein Milchwagen scheppert, ein Stück eines sentimentalen Songs aus überlautem Radio wird schnell abgedreht. Im Morgengrauen sind die meisten Städte schön.

Sagt Heinar Kipphardt. Und das gilt vielleicht auch für den Abend und die Nacht.

Michael Wildenhain (Jahrgang 1958) hat neben Lyrik, einer Erzählung und zwei Romanen im Rotbuch Verlag bei henschel Schauspiel auch mehrere Dramen publiziert. Ende Februar erscheint im Fischer Verlag sein Erzählungsband „Heimlich, still und leise“ (ca. 170 Seiten, 18 DM). In mehreren Lesungen wird der Autor diese Texte in Berlin vorstellen, u.a. am 22.2., 20 Uhr im Brecht- Haus, Chausseestraße 125, Mitte, und am 3.3., 21 Uhr in der Autorenbuchhandlung, Carmerstraße 10, Charlottenburg.