piwik no script img

■ Neuer Trend in Europa: GesundheitstourismusZahnparadies Ungarn

Wien/Sopron (taz) – Es gibt einen witzigen Dokumentarfilm aus dem Baltikum, der sich mit der real sozialistischen Zahnsituation beschäftigt. Demnach wäre der eigentliche Grund für den Zusammenbruch des Ostblocks die löchrige Situation der Ostgebisse gewesen. Nachdem Bilder von grinsenden Weststars à la Franz Beckenbauer und Konsorten mit dem Zahnlückenlachen der Balten verglichen wurden, zieht am Ende des Kurzfilms eine schier unendliche Menge von Menschen in eine riesige Kirche und stimmt ein kollektives Bittgebet an: „Oh Herr, gib uns unsere Zähne wieder!“

An der ungarisch-österreichischen Grenze ist alles anders. Dort ziehen die Menschen aus Europa- West gen Osten, um sich die Zähne richten zu lassen. Das weit – fast wie eine Enklave – nach Österreich hineinragende Sopron erlebt Woche für Woche einen Ansturm Zahnkranker aus Skandinavien, den Niederlanden, Italien, der Schweiz, Deutschland und natürlich Österreich.

Die Straßen der Kleinstadt sind beispiellos übersät mit Schildern, die auf eine der über 80 Zahnkliniken hinweisen. Renate Müller, eine Zahntouristin aus Wien: „Warum soll ich nicht dorthin fahren, wenn es mit dem Auto nur eine halbe Stunde von Wien entfernt ist?“ Die Krankenkasse wäre froh über den Kostenvorteil einer Behandlung in Ungarn. Auch die aus Österreich losfahrenden, kurz im ungarischen Sopron stoppenden und dann weiter nach Wien reisenden Züge sind verdächtig voll mit Leuten, die statt Einkaufstaschen sich schmerzverzerrt die Wange halten.

Der Ansturm ist gewaltig. „Wir benutzen die gleichen Materialien und Technologien wie im Westen“, sagt Laszlo Szilafyi, Direktor von „Dental Pannonia“, einer der vielen Zahnfirmen, allerdings sind sie bedeutend billiger. Eine Porzellankrone kostet 8.000 Schillinge (etwa 1.150 DM) in Österreich und eine Füllung 2.000 Schillinge (ca. 290 DM). Die Ungarn schaffen das schon für 2.170 Schillinge (ca. 300 DM) und 500 Schillinge (ca. 70 DM). Der Grund für die günstige Zahnrestaurierung liegt in den niedrigen Löhnen: Ein ungarischer Zahnklempner bekommt 35.000 Forint (ca. 630 DM) im Monat – das dürften seine verwöhnten KollegInnen im Westen gerade an ein bis zwei Tagen verdienen. Außerdem sind die Steuern in Ungarn niedriger.

Doch Dr. Szilafyi will noch mehr. Er hat seine Zahnklinik zu einem medizinischen Hotel ausgebaut, später sollen hier nicht nur Gebisse komplettiert, sondern auch Brüste siliconiert und Gesichter gestrafft werden. Wenn die westeuropäischen Menschen sich perfektionieren wollen, dann kostet sie das in Ungarn nur zwischen einem Fünftel und der Hälfte der heimischen Hochpreise. Die Ungarn lassen die Gesichtsfalten schon für 75.000 bis 80.000 Forint (ca. 1.300 bis 1.400 DM) verschwinden, eine Nase biegen sie für nur 45.000 Forint (ca. 750 DM) gerade. Szilafyi sieht für Ungarn auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie eine große Zukunft; schon jetzt kämen PatientInnen aus Österreich, Finnland und der Schweiz sowie aus Tschechien, der Slowakei und Rußland.

Der Zoll hat übrigens noch nichts davon mitbekommen. Es dürfte jedoch nur eine Frage der Zeit sein, bis normal korrekte österreichische Zöllner die eingeführten Zähne, Ersatzbrüste und verdächtig gestrafften Gesichter aus der Transitmenge herausgreifen. Hoffentlich müssen die östlichen Körperersatzteile dann nicht an der Grenze abgegeben werden. Vielleicht erlebt dann Wien eine Demonstration, in der körperlich nicht ganz so perfekte Westeuropäer flehen: „Oh Gott, gib uns unsere Zähne wieder!“ Falk Madeja

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen