„Durch islamisches Recht nicht legitimiert“

■ Der iranische Theologe und Rechtswissenschaftler Dr. Mehdi Haeri kritisiert die Fatwa mit religiösen Argumenten. Vor einem Jahr scheiterte in Bochum ein Attentat gegen ihn.

Haeri studierte unter anderem in Nadschaf, dem im Süden Iraks gelegenen Zentrum der schiitischen Theologie. Seit er 1986 den Iran aus politischen Gründen verließ, lebt er in der Bundesrepublik. Seine Kritik an der iranischen Führung verbreiteten unter anderem die persischsprachigen Hörfunkprogramme der britischen BBC und „Voice of America“.

taz: Herr Haeri, was halten Sie von der Fatwa gegen Salman Rushdie?

Haeri: Ich bin gegen diese Fatwa. Erstens, weil sie nicht durch islamisches Recht legitimiert ist. Zweitens, weil sie nach Chomeinis Tod nicht mehr gilt. Drittens, weil sie das Ansehen des Islam in der Welt beschädigt. Die Islamische Republik Iran hat internationale Gesetze und Konventionen akzeptiert. Sie hat zum Beispiel die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben. Die Fatwa widerspricht aber diesen Gesetzen und Konventionen.

Aber die iranische Führung behauptet gerade, die Fatwa basiere auf islamischem Recht.

Eine Fatwa ist eine persönliche Auffassung eines Gelehrten zu einer Sache. Die Mullahs in Teheran behaupten aber, der Mordaufruf gegen Rushdie sei ein Hukm und keine Fatwa.

Was ist der Unterschied?

Eine Fatwa ist eine persönliche Auffassung, Hukm aber ist ein legitimiertes Urteil eines islamischen Gerichts oder eines islamischen Richters. Meiner Meinung nach ist der Mordaufruf kein Hukm, weil er nicht von einem islamischen Gericht oder einem islamischen Richter ausgesprochen wurde. Aber auch ein Hukm kann von einem islamischen Gericht widerrufen werden. Die iranische Führung behauptet dagegen, der Mordaufruf sei nicht widerrufbar, weil er von dem religiösen Führer – nämlich Ajatollah Chomeini – stammt. Ein solches „Führer-Hukm“ ist in der Geschichte einmalig. Meines Erachtens gibt es so etwas nicht.

Heißt das, daß Ajatollah Chomeini nach islamischem Recht nicht berechtigt war, den Mordaufruf auszusprechen?

Ja, weil der „Täter“ – ich sage nicht, daß Salman Rushdie einer ist – nicht im Iran lebt. Die Scharia, das islamische Recht, darf nur in einem islamischen Staat angewendet werden. Zum Beispiel gibt es hier im Ausland Hunderttausende Iraner, von denen zahlreiche Dinge tun, die nach islamischem Recht verboten sind. Aber deswegen dürfen islamische Richter sie nicht bestrafen. Es gibt Hadith, Überlieferungen über die Handlungen und Aussagen des Propheten, wonach in einem Staat oder einer Gesellschaft, in der Muslime in der Minderheit sind, kein islamisches Recht angewandt werden darf. Seit über tausend Jahren herrscht unter den islamischen Gelehrten der Konsens, daß islamisches Recht nicht außerhalb eines islamischen Staates gilt. Deswegen konnte Chomeini jemanden, der in England lebt, nicht zum Tode verurteilen.

Warum beharrt dann die iranische Führung auf dem Mordaufruf?

Weil er für sie eine politische Angelegenheit ist. Die iranischen Mullahs denken, er sei Teil eines Kampfes gegen den Imperialismus oder gegen die Amerikaner oder Engländer, gegen die Westmächte, die hinter dem Buch von Salman Rushdie stehen.

Die iranische Führung könnte also jederzeit theologisch legitimiert erklären, die Forderung nach der Ermordung Rushdies sei obsolet?

Selbstverständlich! Weil es nach islamischen Gesetzen keinen echten Mordaufruf gegen ihn gibt. – Salman Rushdie hat Millionen Muslime beleidigt. Aber das islamische Recht sieht für eine Beleidigung nicht die Todesstrafe vor. Zudem hat Rushdie sich offiziell entschuldigt. Jemand, der sich für eine Beleidigung entschuldigt hat, darf auch nicht für diese bestraft werden.

Sie empfinden die „Satanischen Verse“ als Beleidigung?

Ja, als Beleidigung nicht nur für den Islam, sondern für alle Religionen. Eigentlich darf niemand seine Freiheit benutzen, um jemand anderen zu beleidigen. Wenn Sie jemanden beleidigen, kann dieser Sie deswegen verklagen. Die Freiheit hat auch Grenzen.

Sie haben das Buch also gelesen. Was empfinden Sie daran als beleidigend?

Rushdies Darstellungen des Propheten Muhammad, seiner Frau oder Abrahams sind sehr negativ und haben nichts mit der Wahrheit zu tun. Millionen Muslime fühlen sich dadurch angegriffen.

Sind Sie deswegen gegen die Verbreitung des Buches?

Nein, ich bin nicht gegen die Verbreitung. Ich kritisiere Salman Rushdie persönlich. Ich denke, ein Schriftsteller sollte so etwas nicht schreiben. Aber es ist halt seine Auffassung.

Heißt das, Ihrer Ansicht nach sollten die „Satanischen Verse“ überall frei vertrieben werden?

Ja.

Warum sind dann die „Satanische Verse“ in fast allen islamischen Staaten verboten?

Von über einer Milliarde Muslime hat höchstens eine Million das Buch gelesen. – Auch die meisten Mullahs haben es nicht gelesen. – Die islamischen Geistlichen, egal ob im Iran, in Ägypten oder Syrien, mißbrauchen die muslimischen Emotionen. Sie sagen: „In den Satanischen Versen wird unser Prophet beleidigt“, und die Menschen sind empört.

Wie reagiert die iranische Führung auf Ihre Kritik?

Sie haben vergangenes Jahr versucht, hier in Deutschland ein Attentat auf mich zu verüben, und sie bedrohen mich immer noch. Der Mordaufruf gilt nicht nur gegen Salman Rushdie, sondern auch gegen Leute, die ihn nach Ansicht der iranischen Führung unterstützen.

Wie stehen andere schiitische Geistliche zu Ihrer Position?

Viele Geistliche im Iran sind nicht politisch, sondern hohe Theologen. Sie unterstützen meine Meinung, aber sie haben Angst auszusprechen, was sie denken. Im Iran gibt es keine Meinungsfreiheit, sondern man muß die staatliche Ideologie vertreten.

Was für Veränderungen fordern Sie im Iran?

Ich bin für die Trennung von Religion und Staat. Die Mullahs haben nur eine theologische Ausbildung. Sie verstehen nichts von Dingen wie Politik, Wirtschaft oder Landwirtschaft. Sie haben in unserem Land chaotische Verhältnisse geschaffen.

Aber häufig wird behauptet, im Islam sei eine Trennung zwischen Staat und Religion grundsätzlich nicht möglich.

Wir Schiiten glauben an die Wiederkehr des „verborgenen Imam“ (der in der Mitte des neunten Jahrhunderts auf rätselhafte Weise verschwundene zwölfte Nachfolger Muhammads, d. Red.). Vor seiner Rückkehr darf kein islamischer Staat gegründet werden. Dafür brauchen wir die persönliche Erlaubnis des verborgenen Imam. Bisher hat diese niemand. Zudem müßten meines Erachtens vor der Gründung eines islamischen Staates neue islamische Gesetze geschaffen werden. Sie müssen den heutigen internationalen politischen, ökonomischen und ökologischen Erfordernissen gerecht werden. Bisher hält der Islam solche Gesetze nicht bereit. Interview: Thomas Dreger