Bestdotierter Killerkontrakt der Geschichte

Die meisten islamischen Gelehrten und Politiker drücken sich um eine klare Verurteilung des Mordaufrufs  ■ Von Walter Saller

Das Corpus delicti erschien Anfang September 1988 in London: ein Kilogramm schwer, zwölf Pfund und 95 Pence teuer, 546 Seiten dick. Sein Titel: „Die satanischen Verse“, der Autor: der indischstämmige britische Staatsbürger Salman Rushdie. Es war nur ein Buch. Aber es führte zum bestdotierten Killerkontrakt der Geschichte, sorgte für eine der bizarrsten internationalen Affären.

Zuerst verdammten nur einige islamische Theologen das Buch, listeten haarfein die einzelnen Vergehen des Autors auf: Der Muslim Rushdie verhöhne den Propheten Muhammad, lege ihm satanische Einflüsterungen in den Mund und gebe einer Schar von Huren die Namen seiner Ehefrauen. Gewiß, das alles sei Haram, ein schweres Verbrechen wider Gott und die Religion. Das Schlimmste aber: Rushdie behandle den göttlichen und unveränderbaren Koran wie ein Ammenmärchen. Und das sei Kufr: Gotteslästerung, Blasphemie, Glaubensabfall.

Nach blutigen Demonstrationen erzürnter Muslime in Delhi, Bombay, Karachi und Dakka verbot am 5. Oktober als erste die indische Regierung die „Satanischen Verse“. Kurz darauf folgte Pakistan, zogen Bangladesch, Saudi- Arabien, die Golfstaaten, Südafrika und Ägypten nach. Auch in Großbritannien, Frankreich und Belgien gingen Tausende von Muslimen auf die Straße. Und in Bradford, der ersten britischen Großstadt mit einem muslimischem Oberbürgermeister, kam es zum Autodafé: Aufgebrachte Gläubige errichteten Scheiterhaufen, verbrannten die „Satanischen Verse“, zündeten Rushdie-Bilder an, setzten Rushdie-Puppen in Flammen.

Irgendwann Anfang 1989 hörte auch der greise Ajatollah Chomeini von dem satanischen Buch, dem Haß, der Wut. Und der Alte aus Ghom, um den es stiller geworden war, muß in Rushdie wohl seine Chance gesehen haben, sich als Führer der islamischen Welt zu profilieren. Am 14. Februar sandte der selbsternannte Scharfrichter Bannstrahl und Todesurteil gegen Rushdie. In Form einer Fatwa, eines islamischen Rechtsgutachtens. Für Blasphemie und Abfall vom Glauben, so die Fatwa kenne der Islam nur eine Strafe: den Tod.

„Der schwarze Pfeil des Todes ist abgeschossen und auf dem Weg zum Ziel“, sagte Chomeini im iranischen Fernsehen und versprach jedem gläubigen Killer ein Kopfgeld von umgerechnet mehr als neun Millionen Mark. Das Blutgeld für einen nichtislamischen Kopfjäger begrenzte er auf 1,8 Millionen. Der Teheraner Tageszeitung Dschumhuri Islam war ein einziges Todesurteil allerdings zuwenig. Sie bedrohte auch Übersetzer, Verleger und Händler des Ketzerbuches: „Wer in den Spuren Rushdies geht, wird sein Schicksal teilen.“ Am 18. Februar entschuldigte sich Rushdie für seine Verse. Chomeini aber verweigerte die Absolution.

Aus dem Koran konnte der Greis sein Gutachten nicht herleiten. Der sieht für den Glaubensabfall eine Strafe im Jenseits vor. Der Ajatollah berief sich daher auf die Hadith, die angeblich überlieferten Aussprüche und Handlungen Muhammads. Und da kennt der Prophet keine Gnade: Auf Apostasie steht der Tod. Da aber der Islam keine theologische Hierarchie wie zum Beispiel der Katholizismus kennt, kann jeder Rechtsgelehrte, wenn er sich denn auf Präzedenzfälle beruft, eine Fatwa erlassen. Bindend ist diese nur für dessen erklärte Anhänger. Und so konnte auch Chomeini allenfalls für einen Teil der schiitischen Muslime sprechen. Keineswegs für alle Schiiten, geschweige denn für alle Muslime der Erde. Morddrohungen gegen Intellektuelle indes haben Tradition in der islamischen Welt. So veröffentlichte die in London erscheinende arabische Literaturzeitschrift Al-Naqid im Juli 1988 eine von militanten Islamisten zusammengestellte Todesliste. 50 Namen wurden genannt: Schriftsteller, Wissenschaftler, Intellektuelle. Ihr Vergehen: „Verrat des Islam“, ihre Strafe: der Tod. Berühmte Dichter wie der Libanese Adonis, die ägyptischen Erzähler Edward Kharat und Jussuf Idris oder die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi finden sich darunter. Auch Hassan M'roua, Mehdi Amala, Farag Foda waren auf der schwarzen Liste. Vor ihrer Ermordung.Rushdie ist daher zwar kein Einzelfall. Wohl aber ein einzigartiger: Mit Chomeini rief zum erstenmal ein Führer einer religiösen Glaubensgemeinschaft und faktischer Regent eines Staates im Namen Gottes zu Mord auf.

Die westliche Welt reagierte einhellig: Zuerst brach Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab, dann beorderten alle EG-Staaten ihre Teheraner Botschafter zurück, verurteilten zusammen mit den USA den „Staatsterrorismus“. Die Reaktionen in der islamischen Welt waren unterschiedlich, die Meinungen gespalten. Mit Ausnahme des Irak wurden Fatwa und Mordaufruf von offizieller Seite der islamischen Länder zwar mißbilligt, im gleichen Atemzug aber Rushdie beschuldigt, die „Satanischen Verse“ verboten. Von allen arabischen Zeitungen fand nur die Middle East Times deutliche Worte über Chomeini. Sein Islam, so das in Griechenland erscheinende Blatt, sei voller Bitterkeit und Rache, seine Führerschaft eine Tyrannei. „Er ist die Verkörperung des Klischees eines Muslims, der alle Gegner umbringt.“ Und in Paris bemühte sich Hamadi Essid, Botschafter der Arabischen Liga, um Schadensbegrenzung: „Die große Mehrheit aller Muslime kann von einem Mordaufruf nur geschockt sein.“

Uneingeschränkten Beifall erhielt Chomeini von radikalen Organisationen: Im Libanon begrüßte Ajatollah Fadlallah, geistiges Oberhaupt der Hisbollah, den Mordbefehl begeistert, Vertreter der „Islamischen Heilsfront“ Algeriens sicherten Unterstützung zu, und der pakistanische Oppositionsführer, Scheich Raschid, lobte gleich 500.000 Rupien (umgerechnet 45.000 Mark) „Abschußprämie“ für Rushdie aus. Daß der „Islamische Dschihad für die Befreiung Palästinas“ und der ägyptische „Dschihad“ des blinden Scheichs Omar Abdel Rahman – er rief schon vor Jahren zum Mord am ägyptischen Literatur-Nobelpreisträger Nagib Mahfuz auf – die Fatwa begrüßte, überraschte niemanden. Wohl aber, daß sich Ahmed Dschibril, Chef der ultraradikalen „Volksfront für die Befreiung Palästinas“, als Chomeini-Verehrer outete.

Die Morddrohungen dürfen zwar nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden. Viele Menschen in der islamischen Welt lehnen das Todesurteil ab. Auch wenn ihnen das Buch zumindest in Teilen blasphemisch erscheint. Der Schock der großen Mehrheit aber läßt immer noch auf sich warten. So fand sich kein führender sunnitischer Theologe der Kairoer Al-Azhar- Universität bereit, Chomeinis Fatwa ohne Wenn und Aber zu verurteilen. „Im Islam“, meinten die Azhar-Scheichs sophistisch, „gibt es keine Tradition, Menschen ohne Gerichtsverfahren zu töten“. Und auch der „Rat der Islamischen Länder“ drückte sich um ein klares Wort. Durch sein Verbot der „Satanischen Verse“ bei gleichzeitigem Schweigen zu Chomeinis Morddrohungen, kritisierte der nigerianische Literatur-Nobelpreisträger Wole Soyinka, habe der Rat signalisiert: „Wir können nicht auf ihn zählen.“

In der Rushdie-Affäre geht es freilich um mehr als nur um tatsächliche oder vermeintliche Gotteslästerung. Es geht um nicht weniger als die Möglichkeit des Individuums, seine Ansichten zu äußern: frei, offen, unzensiert. Und es geht um Notwehr: für das Leben von Rushdie, für das Leben all der anderen Bedrohten. Daher, sagte Nagib Mahfuz mit Blick auf die Intellektuellen der islamischen Welt, „müssen wir uns gegen den Geist des Fundamentalismus, gegen den Terror Chomeinis verteidigen.“ Den ersten mutigen Schritt wollen jetzt die Redakteure des Kairoer Magazins Rose Al-Jussuf tun: Um die „Schweigemauer der verängstigten Intellektuellen“ zu durchbrechen, werde sie die „Satanischen Verse“ abdrucken.