Rußland sammelt friedlich seine Erde

Rußland und Georgien unterzeichnen Freundschaftsabkommen / Damit stellt Jelzin in erster Linie die Militärs zufrieden: Die russische Südflanke ist wieder gesichert  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Dies ist das wichtigste Ereignis zwischen Georgien und Rußland seit 200 Jahren“, kommentierte huldvoll Georgiens Präsident Schewardnadse den Besuch des russischen Präsidenten Jelzin und die Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrages. Vor knapp 200 Jahren hatten beide Staaten schon einmal einen Beistandspakt geschlossen, den das zaristische Rußland etwas eigenwillig als Souveränitätsverzicht des kleinen Königreiches interpretierte. Nun hat Rußland südlich des Kaukasus wieder festen Boden unter den Füßen. Das abtrünnige Georgien ist in den Schoß seines übermächtigen Nachbarn zurückgekehrt. Offiziell trat der Kaukasusstaat bereits im vergangenen Herbst der GUS bei. Die ausgebliebene Hilfe Moskaus im Konflikt mit der sezessionistischen Republik Abchasien sowie logistische und materielle Unterstützung revanchistischer Kreise des russischen Militärs hatten Georgien zum Kleinbeigeben genötigt. Die Rückwendung Schewardnadses nach Moskau hätte ihn beinah die Macht gekostet.

Jelzins Stippvisite nehmen die russischen Militärs mit großer Genugtuung auf. Rußland hat seine Südflanke wieder in der Gewalt, deren Verlust nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Militärs außerordentlich beunruhigt hatte. Fünf Militärstützpunkte will Rußland in den drei Kaukasusrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien unterhalten, insgesamt rund 23.000 Mann. Die russische Außenpolitik, die in den ersten beiden postsowjetischen Jahren keine klaren Konturen annehmen wollte, gewinnt nun Gestalt.

Imperialismus mit Hilfe des Westens

Der ehemals polyphone Chor singt mit einer Stimme. Jelzins Präsenz in Tbilissi demonstriert den Militärs zu Hause die Entschlossenheit des Präsidenten, die nationalen Interessen Rußlands über dessen Grenzen hinaus offensiv zu vertreten. Es sieht so aus, als hebe Moskau erneut zum „Sammeln russischer Erde“ an.

Diesmal jedoch nicht unter Einsatz direkter Gewalt. Im Gegenteil, Moskau baut darauf, seine hegemonialen Ansprüche mit Unterstützung des Westens und auf friedlichem Wege zu erreichen. Die Konzeptionslosigkeit der internationalen Organisationen begünstigt diese Strategie. Rußlands Postulat in seiner Interessensphäre – dem „nahen Ausland“ – ein Vorrecht als Konfliktregler zu genießen, versucht es noch durch ein offizielles Mandat von UNO und KSZE abzusichern.

Die Wandlung von Außenminister Kosyrew

Die Rhetorik des einstmals liberalen Außenministers Kosyrew hat in den letzten Monaten ihre verbindlichen und einschmeichelnden Töne gegenüber dem Westen eingebüßt. Offensiv und vom Standpunkt nicht diskussionsfähiger Prämissen werden Rußlands „nationale Interessen“ nun formuliert. Drohungen gegenüber den baltischen Staaten gehören ebenso dazu wie die aggressive Vornewegverteidigung der Interessen der Auslandsrussen. Moskau beweist dadurch, daß es sich nicht als ein Staat unter gleichen versteht. Es beansprucht schlicht die Führungsrolle eines geopolitischen Raumes.

Trotz des harmonischen Gleichklangs der verschiedenen politischen Lager in der Außenpolitik unterscheiden sich die aggressiven Nationalisten um Schirinowski und die Kommunistische Partei noch in der Wahl der Mittel und dem strategischen Endziel. Auffällig ist, daß die Neukonzeptionierung der Politik von außen gesehen eine taktische Antwort auf den Vormarsch der Ultrarechten bei den Wahlen im Dezember zu sein schien.

Auch diese Überlegung spielte sicherlich mit, verliert aber zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die unangenehme Vision eines anmarschierenden Schirinowskis erleichtert es der Regierung heute, härtere Positionen nach außen zu rechtfertigen. Nach dem Motto: Stützt ihr unser Vorgehen nicht, werdet ihr euch demnächst mit Kriegstreiber Schirinowski auseinandersetzen müssen. Erstaunlich ist, wie zurückhaltend die russische Regierung den Kommunisten und Ultrarechten begegnet. Als wolle man sie für die eigene Politik instrumentalisieren.

Aus dem innenpolitischen Chaos und der Schmach den Supermachtstatus verloren zu haben, erhebt sich ein neues Rußland, das seine alten Interessen auf neue Weise sichern will. Der ehemalige Atlantiker Kosyrew mutierte zurück in einen eurasischen Zwitter, der dem Westen auf seiner Chinareise vorwarf, Rußland gängeln zu wollen. Der alte Konflikt der russischen politischen Elite ist gekennzeichnet durch ein Oszillieren zwischen Überlegenheitswahn und Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Ausland. Nach einer Phase der Minderwertigkeit, setzt sich nun die Überlegenheitsphantasie wieder durch.

Doch diesmal vollzieht es sich unter hervorragenden Bedingungen: Die Welt möchte auf keinen Fall den Rückfall Rußlands in ein autoritäres Regime, das sich seiner geopolitischen Interessen mit offener Gewalt annimmt. In Moskau weiß man, daß man trotz der Schwächephase um den Kreml in der Weltpolitik nicht herumkommt. Und im Kreml sitzt Jelzin, den der Westen auf Gedeih und Verderb unterstützen muß, will er Rußland nicht zurück in die Isolation schicken.