Berlin, harmlos und friedlich

■ Psychiater Wilfried Rasch hält Mordserie für nicht "hochspielenswürdig" / Menschen, die andere Menschen zerstückeln, seien im allgemeinen nicht gefährlicher als jeder andere

Seit Jahresbeginn sind in Berlin 16 Menschen getötet worden, die Mehrzahl davon in den vergangenen zwei Wochen. Die Medien, allen voran die Boulevardzeitungen, überschlagen sich mit blutrünstigen Berichten und vierfarbigen Bildern. Dazu ein Interview mit dem Professor für forensische Psychiatrie, Wilfried Rasch.

taz: Auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen prangt in riesigen Lettern: „Angst! Bin ich der nächste?“ Wird hier ganz offen Hysterie geschürt?

Wilfried Rasch: Ich würde den Ausdruck Hysterie nicht benutzen. Aber hier wird etwas hochgespielt, was nicht hochspielenswürdig ist. Wir haben seit Anfang der siebziger Jahre eine gleichbleibende Tötungskriminalitätsquote in der Bundesrepublik und in Berlin. Natürlich gibt es mitunter auch Ballungen, so wie jetzt. Von einer Steigerung der Tötungsdelikte kann man aber erst dann sprechen, wenn der Trend über Jahre gleich bleibt. In Berlin ist die Tötungsquote etwa doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik insgesamt gesehen, aber sie ist nicht schreckenerregend. Im Vergleich zu amerikanischen Großstädten sind wir ein relativ harmloser und friedlicher Platz auf der Welt.

Zwei Opfer wurden enthauptet, zwei Rentner zerstückelt. Ein Toter hatte einen Schraubenzieher im Kopf. Ein Baby wurde vom neunten Stock in die Tiefe geschleudert. Hat es so etwas auch schon immer gegeben?

Ja. Vor wenigen Jahren ist schon einmal ein Baby aus dem Fenster geworfen worden. Bei den Leichenzerstückelungen handelt es sich meist um ganz spezifische Taten von Geisteskranken. Im allgemeinen sind diese Menschen auch nicht gefährlicher als der Durschnittsbürger. Aber wenn sie jemandem etwas antun, kommt oft etwas sehr Abstruses heraus.

Wie kommt ein Mensch dazu, einen anderen zu zerstückeln?

Nicht kranke Täter tun dies bisweilen, um die Leiche beiseite zu schaffen. Sie versuchen Teile zu verbrennen, ins Wasser zu werfen oder an der Autobahn zu verteilen. Das sind Verdeckungsversuche. Sowas ist in Anführungszeichen normal, auch wenn es den Betreffenden in der Regel nicht leicht fällt, einen Menschen so zu zerstückeln. Schizophrene tun dies meist aus der abstrusen Vorstellung heraus, den anderen vollkommen zu vernichten oder – wie im jüngsten Fall – um die Seele vom Körper zu trennen. Solche Fälle gab es auch früher schon.

Was halten Sie von den Sonderseiten zu den Morden in den Springer-Zeitungen? Es soll auch schon einen Mordatlas geben, auf dem die Berliner den Gefahrenindex ihres jeweiligen Bezirks ablesen können.

Diese Schreckensmeldungen sind schon allein deshalb nicht berechtigt, weil die in den letzten 14 Tagen bekanntgewordenen Taten von ihrem Motivationshintergrund her sehr unterschiedlich sind. Man kann nicht sagen, daß in Berlin eine Mordkrankheit ausgebrochen ist und keiner seines Leben mehr sicher ist. Es sind Taten ganz verschiedener Prägungen. Daß die Zeitungen dies hochspielen, ist nun einmal ein Zug der Zeit. Die Folge davon ist ein teuflischer Kreislauf. Je mehr darüber gesprochen wird, um so mehr können Leute angestachelt werden.

Gibt es dafür Belege?

In Einzelfällen. Ich habe neulich einen Menschen untersucht, bei dem eindeutig gewisse Horrorvideos ausschlaggebend für eine bestimmte Tatbegehung waren.

Was halten Sie von der Präsentation durch Fotos? „Bild“ brachte in zwei Ausgaben ein farbiges Bild von dem aus dem neunten Stock geworfenen Baby.

Ich finde das außerordentlich geschmacklos. Rein wissenschaftlich gesehen ist es aber so, daß die Leute, die das betrifft, so etwas nicht unbedingt lesen. Auf der anderen Seite wird auf diese Weise das ganze Lebensklima der Stadt verdorben, weil damit suggeriert wird, man wird an der nächsten Ecke umgebracht.

Teilen Sie die weitverbreitete Ansicht, daß die Gesellschaft immer roher und brutaler wird?

Der Trend zu einer gewissen Kriminalisierung ist schon lange zu verzeichnen. Bei den früheren Delikten, die wir im forensischen Institut zu bearbeiten hatten, handelte es sich wesentlich um Konflikttaten im familiären Bereich, wie Partnertötungen oder um Elendstaten. Insgesamt ist festzustellen, daß Raubmorde heutzutage ganz selten begangen werden. Meistens handelt es sich um persönliche Konflikte, die an einem x- beliebigen anderen ausagiert werden. Bei jugendlichen Tätern ist auffällig, daß die Delikte brutaler werden, wenn mehrere zusammen sind. Sie versuchen sich dann gegenseitig zu übertreffen. Interview: Plutonia Plarre

Wilfried Rasch leitete bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Oktober das Gerichtsmedizinische Institut an der FU. Er ist ein Vertreter der modernen Schule, bei der die Dynamik des Tatgeschehens und die Persönlichkeitsentwicklung des Beschuldigten im Vordergrund stehen. Dies war vor 25 Jahren, als in Westdeutschland der mehrfache Kindesmörder Jürgen Bartsch vor Gericht stand, keineswegs selbstverständlich. Mit seinem Gutachten bewirkte Rasch damals, daß Bartsch in einem zweiten Prozeß statt zu lebenslänglich zu zehn Jahren Jugendstrafe mit anschließender Einweisung in die Psychiatrie verurteilt wurde.