■ Abgesang auf die Bildungspolitik
: Nach uns die Mutation

Nur 50 Kilometer Autobahnbau weniger – und der Etat des Bundesbildungsministeriums wäre saniert. Aber statt Wege in die Zukunft zu bauen, planiert eine Gesellschaft, die dem „weg! weg!“ verfallen ist, ihre Fluchtwege. Der Vorschlag, 50 Kilometer Autobahn „umzuwidmen“, war der letzte von Rainer Ortleb als Bildungsminister. Dann flüchtete er zurück in die Krankheit, Depression und Kreislaufbeschwerden, derentwegen er schon während des Bildungsgipfels krank geschrieben war, und trat zurück. Sein Vorschlag – Bildung statt Autobahn – war so ganz ernst allerdings nicht gemeint. Denn natürlich wolle er seinem Kollegen Wissmann vom Verkehrsministerium nichts wegnehmen! Nein, nein, er wolle nur mal zeigen, wie bescheiden doch seine Forderungen seien.

Eben. Und so war er. Halbherzig, unentschlossen, schwermütig und dem Gemeinplatz verpflichtet. Damit erfüllte er durchaus das Anforderungsprofil für die Planstelle Bundesminister für Bildung. Denn diese Regierung weiß mit Bildung so recht nichts anzufangen. Daß Bildung die entscheidende Investition in die Zukunft sei, sagen sie alle. Aber sie glauben nicht daran. Sie können sich den Schritt nicht vorstellen, der heute ansteht: den Übergang von den belehrenden Anstalten der Lehrplanwirtschaft zu lernenden Organisationen, Zukunftswerkstätten, die diese Gesellschaft braucht. Die Phantasie, die unsere Politikdarsteller für technologische Innovationen verlangen, fürchten sie, denn sie ist unteilbar. Kein Zufall, daß die Alarmrufe heute aus der Industrie kommen. Eine mit Wissen zugemüllte, ihrer Utopien beraubte, erloschen wirkende Generation bringt keine Innovationsschübe.

Man lese die deutsche Patentbilanz im internationalen Vergleich. Peter Haase, Chef der Personalentwicklung bei VW, verlangt deshalb eine Kulturrevolution an Schulen und Hochschulen. Es komme weniger darauf an, was gelernt werde, sondern wie.

Der Neue: wieder so ein belehrender Langweiler

Hartmut von Hentig, Nestor der deutschen Pädagogik und immer noch stärkster Ideengeber, schreibt in seinem jüngsten Buch, „Die Schule neu denken“: „Eine Gesellschaft, die ihre jungen Leute bis zum 25. Lebensjahr nicht braucht und sie dieses wissen läßt, indem sie sie in ,Schulen‘ genannte Ghettos sperrt, in eine Einrichtung, die nichts Nützliches herstellt, an der nichts von dem geschieht, was Menschen für wichtig halten, die sich nicht selbst erhält und die man nicht freiwillig besucht – eine Gesellschaft, die ihren jungen Menschen dieses antut, sie wird verlieren. Die Jugend wird darauf pfeifen, nein, darauf spucken, darauf treten.“

Ob der Neue aus der Möllemannpartei, der 64jährige Bauingenieur aus Nordrhein-Westfalen, Klaus Laermann, das versteht? Der ehemalige Leiter eines Labors für Spannungsanalyse und Meßtechnik ist Aufsichtsratsmitglied der Brennstoff AG Schwarze Pumpe. Wieder so ein Mann, der stockend und stotternd davon faselt, daß man seine Hausaufgaben machen muß. Wieder so ein Mann, der schon als Person wie die Instantpackung der alten didaktischen Zumutungen wirkt: Belehrung, Langeweile und nach oben schielend, „Mutti, welches Bild soll ich jetzt malen?“.

Zur Pseudopolitik kommt Pseudoprotest

Und die StudentInnen? Sie regen sich wieder. Darüber muß jeder froh sein. Denn von Jugendlichen, die nichts als zufrieden sind, hat eine Gesellschaft nicht viel zu erwarten. Selbst Herr Biedenkopf ruft nach Querdenkern in der jungen Generation, und niemand erhört ihn. – Von Jugendlichen, die keinen Grund haben, zufrieden zu sein, und die sich dennoch nicht regen, ist allerdings Schlimmes zu befürchten. Dann tritt das böse Ressentiment an die leergebliebene Stelle intelligenten Protestes. Statt der Bewegung, die über den Tag hinaus geht, wird nach der stabilen Rahmung für Weltbilder gesucht. Für diese Rahmung braucht man bekanntlich Feinde. Ein Blick auf die Ränder der deutschen Jugendszene zeigt, Jugoslawien ist überall.

Hoffnung machen also die Studenten, die jetzt wieder protestieren. Aber so wohlwollend und ausdauernd man bei ihnen nach Entwürfen oder gar Visionen sucht – man findet nicht viel. Im Ernst scheinen sie nicht so recht zu glauben, daß die miserable Situation an den Hochschulen überwunden werden kann – und auch sonst ist ihnen der Blick zum Horizont offenbar so verdüstert, daß sie den Kopf nicht heben wollen. Da kam dann das sogenannte Eckwertepapier zu Hilfe. Es wurde zwischen Ländern und dem Bund schon im vergangenen Jahr ausgehandelt und stellt Strafgebühren für Studenten, die Regelstudienzeiten überziehen, in Aussicht. Das gab dem Protest in den vergangenen Wochen Nahrung.

Und pünktlich zum längst angekündigten Aktionstag der Studierenden veröffentlichte die Bundesregierung ihr Kabinettstück, Bafög nicht den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen und künftig schon nach dem zweiten Semester zu überprüfen, ob Bafög-Empfänger auch ihre Scheine machen. Man könnte auf den Gedanken kommen, diese Bundesregierung treibe suizidale Absichten. Sonst würde sie mit ihren Dummheiten nicht so pünktlich dem ratlosen Studentenprotest über den Berg helfen. Oder paßt ihr der vielleicht in den Kram?

Der neueste StudentInnenprotest ist einer der Erstsemester. Sie lesen in der Zeitung vom Mangel an Innovationen in diesem Land und werden in den Betrieb einer Lernfabrik gepfercht. Sie fühlen sich betrogen und sind es auch. Selbst von Hochschullehrern kommt nicht viel. So müssen sie sich verhöhnt fühlen, wenn dieser Regierung nichts als Pseudopolitik einfällt: Leistungsüberprüfung für Bafög-Empfänger nach dem zweiten Semester. Als gebe es nicht ohnehin schon mehr Bürokratie als Inspiration an den Hochschulen, als sei das Studium zu großen Teilen nicht ein Scheinstudium mit großem Zeitaufwand für den Bluff: Lernen, um nach der Klausur gleich wieder zu vergessen. Aber das Dumme an dieser Steilvorlage des Bundeskabinetts für den Studentenprotest ist: Die Regierung verführt mit ihrer Pseudopolitik die StudentInnen zum Pseudoprotest. Nein, der Protest dieser Tage ist nicht viel besser als die Politik, gegen die er sich richtet. Phantasielos, wenn man von Aktionen im Schwimmbad unter der Parole „Bildung geht baden“ absieht.

StudentInnen, laßt euch die Themen nicht diktieren!

Die Regierung hat sich für ihre Scheinpolitik Langzeitstudenten als Sündenböcke ausgeguckt, vielleicht kann sie sich mit dem Thema „Sparen am Bafög“ sogar im Superwahljahr beliebt machen. Die Studenten lassen sich das Thema diktieren. Schade. Zur jüngsten Sparrunde der Bundesregierung mußte der ohnehin eingelaufene Forschungsetat noch mal 2,5 Prozent abgeben, bei einer durchschnittlichen Schrumpfquote im Bundesetat von einem Prozent. Dieses Land, von seiner ratlosen Elite neuerdings „Standort“ genannt, wird offenbar mit der Parole „Nach uns die Mutation“ regiert. Protest dagegen ist nötig, liebe StudentInnen. Laßt euch aber mit dem Thema Bafög nicht abspeisen, wenn es derzeit auch wie gerufen kommt. Reinhard Kahl

freier Journalist und Autor in Hamburg