Kaschmir-Krieg in Wort und Blut

Pakistans Regierung will angesichts der Menschenrechtslage im indisch kontrollierten Kaschmir-Tal einen Propagandaerfolg erringen / Verordneter Generalstreik aus Solidarität  ■ Aus Neu-Delhi Bernard Imhasly

Am 27. Januar wurde in Kupwara, einer Kleinstadt nahe der indisch-pakistanischen Waffenstillstandslinie im Norden Kaschmirs, ein Armee-Konvoi von Mitgliedern einer Untergrundgruppe beschossen. Der Angriff erfolgte kurz vor Mittag, als die Fahrzeuge an der starkbesuchten Bus-Station vorbeifuhren. Nach einem kurzen Feuergefecht lagen fünfzehn Zivilisten erschossen in ihrem Blut, weitere fünfzehn waren zum Teil schwer verletzt. Es war eine Szene, die für das Kaschmirtal in den letzten vier Jahren typisch geworden ist: Armee-Einheiten, die sich im zivilen Alltag einer angeblichen Guerilla-Attacke mit Racheakten erwehrt, wie kürzlich in der Nachbarstadt Sopore, als ein ähnlicher Überfall zur Brandschatzung eines ganzen Quartiers führte.

Die indische Armee behauptet, Ort und Zeit solcher „Provokationen“ seien sorgfältig gewählt, um ein Maximum an politischer Wirkung zu erzielen: Die Entfremdung zwischen der Zivilbevölkerung und den Ordnungskräften nimmt zu, ebenso wie der internationale Mißmut über Menschenrechtsverletzungen. Wenn es den Untergrundkämpfern um eine militärische Schwächung ging, warum die Wahl eines Basars, und dazu noch zu dieser Tageszeit, als es dort von Menschen wimmelte? Die Terroristen hätten sogar, hieß es, einen Photographen postiert und selber in die Menge geschossen, um die Panik zu vergrößern. Selbst in der Wahl des Datums sieht Indien keinen Zufall: abgestimmt auf die politische Kampagne, mit der die Regierung Pakistans unter Benazir Bhutto Kaschmir seit einem Monat zu einem Hauptthema gemacht hat, und die am heutigen Samstag mit einem „Kaschmir-Generalstreik“ in Pakistan ihren Höhepunkt erreichen soll.

In indischen Augen wird die pakistanische Kampagne mit einer internationalen Propagandaaktion koordiniert. Dies gilt insbesondere für die UNO-Kommission für Menschenrechte, die zur Zeit in Genf tagt und in welcher Pakistan eine Kaschmir-Resolution eingebracht hat. Bei ihrem Auftritt als Eröffnungsrednerin verglich Frau Bhutto Indiens Politik mit jener des Holocaust.

Zuvor hatte die pakistanische Premierministerin in einer Fernsehrede erklärt, Kaschmir sei ihr zentrales Anliegen, und es werde nicht mehr lange dauern, bis der Zankapfel im Norden in den pakistanischen Schoß gefallen sei. Ihr Außenminister Sardar Assef Ali klagte Indien an, es riskiere einen neuen, vielleicht gar nuklearen Krieg. Auch der Besuch in Sarajevo diese Woche war für Bhutto nur ein Abstecher in ihrer Europareise, in der die Anprangerung der indischen Menschenrechtsverletzungen in Kaschmir das Hauptziel darstellte.

Was bewegt Bhutto zu diesem Krieg der Worte? Bereits 1990, in Benazirs erster Amtsperiode, waren die bilateralen Beziehungen wegen Kaschmir auf einen Tiefpunkt gesunken. Damals stand die Premierministerin aber unter dem vereinten Druck der Opposition, des Präsidenten und der Armeespitze. Diesmal liegt die politische Konstellation bedeutend günstiger für Benazir, da ein Vertrauensmann auf dem Präsidentenstuhl sitzt und die Armee sich betont im Hintergrund hält. Es dürfte aber auch eine Rolle spielen, daß die Sensibilität für Menschenrechtsverletzungen im Westen, und besonders in der Clinton-Regierung, den Hebel hergeben könnte, mit dem Pakistan die Kaschmir-Frage internationalisieren kann.

Indien versucht, diese Offensive auf einer breiten Front aufzufangen. In Kaschmir selber hat die Regierung Rao mit Oppositionellen einen politischen Dialog begonnen. Doch die meisten lokalen Politiker sitzen in Delhi, ohne Unterstützung im Volk, oder sie wagen es nicht, durch Regierungskontakte den Zorn der Untergrundgruppen herauszufordern; eine Reihe von Persönlichkeiten hat solche Verbindungen bereits mit dem Leben bezahlt. Wie verzweifelt die Suche nach einer politischen Lösung im Rahmen einer größeren Autonomie ist, zeigt die Tatsache, daß die Regierung seit kurzem sogar den ehemaligen Chefminister von Kaschmir, Faruk Abdullah, aufgeboten hat, dessen Mißwirtschaft weithin als einer der Ursachen der Krise angesehen wird. Abdullah konnte bei einem Besuch Srinagars seine festungsmäßige Residenz nicht verlassen, und das Grab seines Vaters Sheikh Abdullah, der während Jahrzehnten die Politik des Gliedstaats dominiert hatte, muß rund um die Uhr vor der Schändung durch eine der zahlreichen Guerilla-Organisationen geschützt werden.

Im Sinn der Vertrauensbildung unterbreitete Indien seinem Nachbarn Ende Januar sechs Vorschläge. Obwohl keiner von ihnen den zentralen Konflikt direkt angeht, kommen sie früheren pakistanischen Forderungen recht weit entgegen. Das gilt besonders für Delhis Einverständnis, das 1992 verhandelte Abkommen über die Kontrolle des Siachen-Gletschers zu unterzeichnen. Seit mehreren Jahren führen die beiden Länder in der unwirtlichen Karakorum- Region in über 7.000 Metern Höhe einen kostspieligen Kleinkrieg um die Kontrolle einiger strategischer Plateaus. Weitere Vorschläge betreffen die gegenseitige Respektierung der Waffenstillstandslinie sowie ein Abkommen, das beide Länder verpflichtet, auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu verzichten. Pakistan hat bisher alle Vorschläge zurückgewiesen, mit dem Hinweis, sie gingen am zentralen Problem vorbei.