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Die Sonne über Tanegashima

Japan schließt mit dem erfolgreichen Start seiner ersten eigenen Rakete in der Weltraumtechnologie zum Westen auf  ■ Aus Tanegashima Georg Blume

Etwas nördlich des 30 Breitengrades, an der Grenze der ostchinesischen See zum offenen Pazifik, weht am frühen Morgen des 4. Februar 1994 ein frischer Wind aus Nordost. Wir befinden uns an der Südspitze der japanischen Zuckerrohrinsel Tanegashima und zum erstenmal seit Tagen erscheint die Wetterlage normal. Weiter nördlich, von der Raketenbasis kaum mehr ersichtlich, sind einige Fischerboote zum Tintenfischfang ausgezogen.

Doch ihre Lichter kommen nicht näher. Rund um das Südkap von Tanegashima haben die Direktoren der Nationalen Japanischen Weltraumbehörde (Nasda) eine künstliche Linie durchs Meer gezogen, jenseits derer Fischfang verboten ist. Raketenteile, die vom Himmel fallen, könnten an diesem Morgen die Fischer gefährden.

Zeitsprung zurück zum 23. Dezember 1993. Seit 2 Uhr morgens erstrahlt die südöstlichste Landspitze von Tanegashima im hellen Scheinwerferlicht. In der kalten Winternacht dürfen ein Dutzend ausländische Journalisten auf Einladung der Nasda am letzten Starttest der ersten japanischen Satellitenträgerrakete H 2 teilnehmen. Bis auf hundert Meter rücken Kameras und Blitzgeräte an die Abschußrampe heran. „Flügel rechts öffnet sich um 1 Grad“, teilen die Lautsprecher der Kommandozentrale mit. Mehrere Dutzend Ingenieure turnen über alle Etagen des Raketengerüstes. „Wenn sich die zwei Flügel des Metallgerüstes heute zum ersten Mal öffnen, wird man unsere Rakete wie ein Kind zwischen der Armen der Mutter entdecken können“, hatte uns Toshiki Kikuyama, Direktor der Weltraumbehörde auf Tanegashima, voller Vorfreude angekündigt.

Am Donnerstag morgen nun konnte er von viertausend Schaulustigen und Millionen Fernsehzuschauern in ganz Japan noch einmal miterlebt werden. „N-I-P-P-O-N“ las die Nation schwarz über orange die sechs Buchstaben auf dem Raketenkörper, mit deren banaler Losung Japan ins Zeitalter der Weltraumindustrie startete. Nur wenige Minuten später verkündete der Nachrichtensprecher des halbstaatlichen Fernsehens NHK: „Der erfolgreiche Abschuß der H 2-Rakete zeigt, daß die japanische Raketenentwicklungstechnologie den gleichen Stand wie in den USA und Europa erreicht hat.“

Noch am gleichen Tag nehmen die Abendzeitungen in Tokio den Jubelgesang auf: „Das Aufholrennen mit dem Westen ist vorbei“, titelt die angesehene Asahi Shinbun. Den „ersten Schritt zur Weltraummacht“ propagiert die Wirtschaftszeitung Nihon Keizai. Doch was die Blätter nicht erwähnen: Diesmal handelt es sich um keine leichte Erfolgsstory aus dem Album der japanischen Wirtschaftswunder. Mühsam und mit vielen Rückschlägen, die bei einem Unfall 1992 sogar ein Menschenleben kosteten, erarbeiteten sich die Ingenieure auf Tanegashima ihren ersten Erfolg.

Daß die Japaner länger als Europäer, Amerikaner, Russen und Chinesen brauchten, um ihre erste Satellitenträgerrakete zu entwickeln, liegt am Umfang ihres Programms: Die Nasda arbeitet seit Jahren mit etwa einem Drittel des Budgets der europäischen Weltraumbehörde (ESA) und nur einem Dreißigstel des amerikanischen Nasa-Etats. Und auch die gesamte japanische Weltraumindustrie mit annäherend 10.000 Beschäftigten hat nur den bescheidenen Umsatz von 5,2 Milliarden Mark erwirtschaftet.

Am großen Tag des ersten Starts auf Tanegashima traf sich trotzdem eine typisch japanische Forschungselite: In ihren blauen Firmenblousons dirigierten Ingenieure von Mitsubishi Heavy Industries, Kawasaki Industries und Nissan Aerospace die Kommandozentrale, während das Nasda- Personal nur die Aufsicht führte. „Hier arbeiten alle gut zusammen“, versicherte Mitsubishi-Operationsleiter Atsuo Tamura beim letzten Test.

Insgesamt 75 Edel-Unternehmen haben sich dem Konsortium „Rocket System“ angeschlossen, vergleichbar mit der europäischen Arianespace. Erneut geben die Weltraumhandwerker damit ein Beispiel dafür, wie das Tokioter Wirtschaftsministerium Miti, unter dessen Schirmherrschaft alle Arbeiten an der H2 stehen, die japanischen Unternehmen anleitet und zur Zusammenarbeit bringt, selbst wenn vorerst keine großen Profite zu erwarten sind. Mit Entwicklungskosten von 300 Millionen Mark liegt der Preis einer H2-Rakete derzeit noch mehr als doppelt so hoch als ihre Konkurrenz aus Europa und den USA.

Die sechs weiteren H2-Raketen, welche bis 1998 für den Abschuß vorgesehen sind, werden deshalb vor allem nichtkommerzielle Forschungssatelliten befördern. Ab 1997 soll ein japanischer Wettersatellit unter Beobachtung der tropischen Regenwälder die CO2-Entwicklung in der Erdatmosphäre einfangen.

Damit erwächst Europäern und Amerikanern zumindest kurzfristig keine neue Konkurrenz. Auf lange Sicht könnte das japanische Beharren auf einer eigenen Weltraumtechnik dennoch Früchte tragen. Shigefumi Saito, Gründungsvater der japanischen Weltraumwissenschaft, beschrieb den Start vom Donnerstag so: „Europäische und amerikanische Raketen, die wie die H2 zwei Tonnen Satellitengewicht befördern können, haben drei Stufen und wiegen 400 Tonnen. Dagegen hat die H2 nur zwei Stufen und wiegt 200 Tonnen. Japan hat den Westen überholt.“

Tatsächlich wurde die Technik für den hochentwickelten H2-Motor bisher unter anderen Bedingungen nur in der amerikanischen Space Shuttle eingesetzt. Kein Wunder also, wenn kurz nach dem Start um 7.20 Uhr über dem Pazifik vor Tanegashima die Sonne aufging.

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