: Grundgesetz: Das Volk bleibt stumm
Erste Lesung zur Reform der Verfassung im Bundestag / Einen Volksentscheid zu Annahme des Grundgesetzes wird es nicht geben / Ein spärliches Ergebnis vieler langer Sitzungen ■ Aus Bonn Tissy Bruns
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wären heute auf der Seite der Mutigen, auf der Seite derjenigen, die die Verfassung mit Augenmaß hätten erneuern wollen, meinte Hans-Jochen Vogel. Der Obmann der SPD in der Gemeinsamen Verfassungungskommission warb in (fast) letzter Minute noch einmal für eine weitherzige Reform des Grundgesetzes. Nach zweijähriger Arbeit hat die paritätisch von Bundestag und Bundesrat besetzte Kommission ihren Bericht vorgelegt, der gestern im Bundestag zur ersten Lesung anstand.
Das umfangreiche Dokument und die vierstündige Debatte konnten aber über die spärlichen Arbeitsergebnisse nicht hinwegtäuschen. Die Hauptleistung der Kommission bleibt der neugefaßte Artikel 23 („Europa-Artikel“). Vorgeschlagen werden neue Bestimmungen zu den Bund-Länder- Kompetenzen. Der Gleichberechtigungsartikel 3 wird wie folgt ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Umstritten, aber immerhin gelungen ist die Aufnahme des Staatsziels Umweltschutz (20a) Ebenfalls in Minimalkonsensfassung wurde das Staatsziel Minderheitenschutz (20b) aufgenommen.
Plebiszite bleiben dem Grundgesetz fremd. Auch eine abschließende Volksabstimmung über die Verfassung, die Anfang 1992 auch führenden Regierungspolitikern noch möglich schien, wird es nicht geben. Der Kommissionsbericht führt dazu lapidar die Mehrheitsmeinung an, eine „Volksabstimmung könne der Legitimation des Grundgesetzes mithin nichts Wesentliches mehr hinzufügen“.
SPD, Bündnis 90 und PDS brachten je einen langen Katalog nicht erfüllter Wünsche in das weitere Gesetzgebungsverfahren ein. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/ Die Grünen), der die Hoffnungen der Bürgerbewegungen in die Kommission getragen hatte, dankte enttäuscht den Mitarbeitern des Sekretariats, „die dieses merkwürdige Verhältnis von aufgewandter Arbeit und Spärlichkeit der Ergebnisse der deutschen Öffentlichkeit in unbestechlicher Objektivität und Vollständigkeit dokumentiert haben“.
Der Auftrag der am 16. Januar 1992 konstituierten Verfassungskommission basierte auf dem Einigungsvertrag, der in Artikel 5 „den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland“ empfiehlt, sich mit den „aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen“. Ausdrücklich aufgeführt werden im Artikel 5 vier Komplexe möglicher Verfassungsänderungen, darunter die Aufnahme von Staatszielbestimmungen und die Frage der Anwendung des Artikel 146. Daß dem „Anschluß nach Artikel 23“ noch ein gemeinsamer verfassunggebender Prozeß im vereinten Deutschland hätte folgen können, womöglich mit einem abschließenden Volksentscheid nach Artikel 146, danach sah es allerdings im Januar 1992 nicht mehr aus. Vor allem die Union hatte klargemacht, daß sie zu nur sehr begrenzten Änderungen bereit war.
Eine „Totalrevision“, wie Unions-Obmann Rupert Scholz gestern sagte, sei nicht Auftrag der Kommission gewesen. „Wir wissen“, hielt Vogel dem entgegen, „daß auch das Bewahrenswerte nur durch Reform zu erhalten ist.“ Die SPD hätte sich einen Verfassungsrat gewünscht, der eine neue Verfassung erarbeitet. „Dies ist von den Konservativen verhindert worden.“
Der zusätzliche Gesetzentwurf der SPD verlangt erhebliche Ergänzungen: das Staatsziel, sich für die Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse einzusetzen (wie Wohnung und Arbeit), das Verbot, Behinderte zu benachteiligen, das Verbot von Diskriminierung aufgrund sexueller Identität, den Schutz auch nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die SPD will die Annahme der neuen Verfassung einem Volksentscheid unterwerfen.
Wolfgang Ullmann beklagte eine „Gespaltenheit der Verfassungssituation“ in Deutschland, nicht nur, weil das Grundgesetz in den neuen Länden mit „erheblichen Modifikationen“ gelte. Die Absage an ein allgemeines Referendum über die Verfassung sei die schwerwiegendste Rechtsminderung „für eine Bevölkerung, die erstmalig in der deutschen Geschichte aus eigener Initiative und auf friedlichem Wege eine politisch und moralisch diskreditierte Diktatur zu Fall gebracht hat“.
Ganz an der Arbeit der Kommission vorbei, der Rupert Scholz „Fleiß“ (26 Sitzungen, 9 Anhörungen, übrigens auch über 800.000 Bürgereingaben) bescheinigte, gelang es indessen einer Abgeordnetengruppe, einen aussichtsreichen überfraktionellen Antrag zu lancieren. 348 Abgeordnete hatten bis gestern vormittag einer Grundgesetzänderung in Artikel 2a zugestimmt: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.“ Das Unternehmen fand den Segen der Fraktionsführungen.
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