■ Stadtmitte: Berliner, Bengalen und die BVG
Kalkutta 1962: Die staatliche Bahngesellschaft erhöhte die Fahrpreise um umgerechnet einen Pfennig. Prompt zog die Bevölkerung auf die Straße und protestierte. Die Demonstration endete gewalttätig, die Polizei eröffnete das Feuer mit Tränengas. Zwei Menschen kamen ums Leben. Am nächsten Tag rief die Oppositionspartei zum Generalstreik auf. Mit großem Erfolg: Die Regierung West-Bengalens hob die Tariferhöhung wieder auf. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich vor zwei Jahren in Bangladesch, als die Regierung die Bustarife um fünf Pfennig anhob. Leute aus Dhaka setzten sechs Busse in Brand.
Fragte da jemand nach den Deutschen? Nach den Berlinern? Ich bezweifle, daß sie so was tun. Schließlich gelten sie als reich und zivilisiert. Und machen eher gegen andere Dinge mobil. Preise im öffentlichen Personennahverkehr, das BVG-Gebaren – all das interessiert sie kaum. Mißstände in diesem Bereich werden scheinbar ignoriert.
Letzten Donnerstag beispielsweise wartete ich auf einen Bus an der Karlsbader Straße. Es war Mittag. Regen prasselte auf den Beton. Der Wind pfiff. Neben mir stand eine ältere Frau, etwa 70 Jahre alt. Sie hustete heftig. Plötzlich packte der Wind unter ihren Regenschirm. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ich half ihr, den Oberkörper aufzurichten. Um wieder zu sich zu kommen, saß sie noch einen Moment auf dem nassen Bürgersteig. Zwei Meter weiter lag ihr Regenschirm, zerbrochen.
Ich war entsetzt, bin es noch immer. In einer reichen Stadt wie Berlin gibt es an vielen Bushaltestellen weder eine Unterstellmöglichkeit, geschweige denn einen Sitzplatz. Mehr als Tariferhöhungen bringt die BVG nicht zustande. Die Passagiere interessieren sie nicht. Sie lassen uns im Regen stehen und dafür auch noch ordentlich zahlen. Obendrein: Wir akzepieren, daß die Busse bei dem Verkehrsaufkommen häufig zu spät sind. Unverschämt wird es allerdings, wenn Busfahrer farbige Passagiere an den Haltestellen sehen und einfach weiterfahren. Mehrmals habe ich das beobachtet.
Hier also die freundliche Empfehlung: Würde die BVG zum Beispiel Wartehäuschen errichten, fänden nicht zuletzt auch Obdachlose einen Unterschlupf. Und wenn den BVGlern das Ganze zu sozial ist, könnten sie es immer noch ökonomisch betrachten und von den Stadtstreichern pro Nacht eine Mark abkassieren. Schon kleine Lektionen können große Probleme lösen.
Ich möchte die BerlinerInnen nicht zu Protestaktionen aufrufen. Ich bin jedoch der Meinung, daß heftiger Protest wachrüttelt. Dafür gibt es Gründe genug. Mit Reichtum und Zivilisation hat das sicherlich nichts zu tun. Daud Haider
Der Autor ist bengalischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt in Berlin. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche und Englische.
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