Babylonische Raumgrundierung

Roberto Paci Dalòs Oper „Auroras“ im Hebbel-Theater uraufgeführt: Mit allerlei Inszenierungsanleihen, Sprachgewirr, rührenden Persiflagen und kleinen Nebensächlichkeiten  ■ Von Fred Freytag

Der Zuschauerraum liegt im Dunkeln, ein poröser Klang hebt allmählich aus im Raum verteilten Lautsprechern an, bricht ab, ein Streicher erklingt, intoniert vermeintlich Themenbruchstücke des Schubert-Quintetts, entsäuselt sich sensibilissimo in Neue-Musik- Welten. Der Vorhang geht nicht auf, nur ein Scheinwerfer bannt plötzlich in seinem hellen Rund ein in kurzärmeligem roten Kleid dasitzendes Mädchen, das gretchenhaft-naiv-nebensächlich am Bühnenrand italienisch dahinredet. Licht aus.

Vorhang auf, Licht an, nächstes Bild: in ungezählter Sequenz kreisen achtzig Minuten lang alle Bilder um drei Paare, die nur choreographische Paare sind. Paar eins: Gretchen und ein braunbefrackter junger Mann, beide zur Rezitation von Sprache verwendet; Paar zwei: David Moss, New Yorker Improvisationsvokalist im Berliner Exil, und Katalin Gyenis, balkan-orientierte Traditionssängerin als Opernsänger-Persiflagen; und schließlich Paar drei: ein Kontrabaß- und ein Akkordeonspieler, Stefano Scodanibbio und Claudio Jacomucci.

Aus den Lautsprechern strömt ununterbrochen – ebenfalls ziemlich nebensächlich – eine akustische Raumgrundierung: der gleiche Text in weiß Gott wie vielen Sprachen; auch Arabisch, Hebräisch und Chinesisch dürfen nicht fehlen, weil das so hübsch in den Programmheften aussieht und Weltläufigkeit unter Beweis stellt. Und natürlich die Theorie stützt, daß sich die Bedeutung eines Textes durch Übersetzung in andere Sprachen nachgerade verbreitert: in Umkehrung des sprachlichen Bewußtseinsfilters sozusagen, wie ihn nicht nur Erich Fromm beschrieben hat.

Aber was soll's, dieser babylonische Sprachen-Wirrwarr erzeugt ja nicht nur erstaunlich lange, äußerst multikulturell anmutende Dankeslisten, sondern klingt auch ganz nett. Und vielleicht war's ja auch schon in Babylon so, daß sich eigentlich alle verstanden, weil sie sich gar nichts zu sagen hatten, und es so schön war, wenn's anders klang. Soviel zum Libretto, für das Isabella Bordoni, die zugleich als Gretchen auftrat (wohlgemerkt: nur ich nenne sie Gretchen, im Stück heißt sie „darstellerin“ – welch Brechtsches Vokabular!) verantwortlich zeichnet. Komponiert wurde „Auroras“ von Roberto Paci Dalò, der zur Zeit als DAAD-Stipendiat in Berlin weilt.

Die ersten Szenen sind verhaltene Stilleben vom Licht gleichsam in Watte gehüllter menschlicher Figuren. Dazu kleine Rezitatiönchen und diverseste Musik, die nett und ohne Berührungsangst vor Folklore dahinflattert, allerlei Geräusche einmontiert und sich durch die Vermeidung von Kulminationspunkten definiert. Ich hätte auf Robert Ashley als Urheber getippt. Allmählich aber werden die Figuren auf der Bühne in Bewegung gesetzt, beginnen geometrische Wege zu suchen, was in Berlin nicht ungefährlich ist. Schließlich war derlei pur und unverfälscht bereits einen ganzen Abend lang in den „Metamorphosen des Ovid“ von Schnebel und Freyer vor ein paar Jahren in der Deutschen Oper zu betrachten. So nimmt's nicht wunder, daß ein paar Freyer- Schüler an der Inszenierung beteiligt waren und Robert Ashley Paci Dalòs Musik im Begleittext lobt.

Was aber tut eine neue Oper, um zu zeigen, daß sie besser ist als eine alte Oper? Sie persifliert die alte Oper, denn eine alte Oper kann ja über eine neue Oper nur in einer Sprache sprechen, die nur noch die wenigsten verstehen und sich somit nicht wehren können. Also erscheinen Zeichen: Immer wieder fuchtelt jemand mit einem blöden Pappschwert durch die Gegend, ein rotes Herz wird in die Luft gehalten nebst Pfeil als obligatem Gegenpart, Ritterrüstungen werden getauscht und Opernarien nachgestellt.

Und wo das alles nicht mehr reicht, zitiert man Adornos Topos der Sprachlosigkeit: Mit weitaufgerissenem Mund, aber stumm steht einer da und bekommt trotz intensiver Bemühungen die Klappe nicht mehr zu. Zu guter Letzt wird noch Neuenfels' Wort- an-die-Wand-schreibe-Technik bemüht: Groß prangt er da, der Titel des Werkes, „Auroras“. Davor versammeln sich allmählich die Akteure in schweren Wintermänteln, um sich genauso nebensächlich wieder zu zerstreuen. Und der Zuschauer weiß nicht nur: Das war's nun – sondern auch, welche Haltung die auftretenden Personen zu diesem Stück entwickelt haben. Waren ja auch nur Figuren ohne Ich – eine Konstellation, die nur David Moss Gott sei Dank gründlich durchkreuzte, wodurch immerhin für einige kurzweilige Vokaleinlagen gesorgt war.

Roberto Paci Dalòs: „Auroras“. Libretto: Isabella Bordoni.