"Diesen pubertären Luxus leiste ich mir"

■ "Kühnen '94", die zweite Theaterarbeit von Filmemacher Christoph Schlingensief, wurde von der Kritik als provokativ, aber anödend abgelehnt. Die Vorstellungen in der Volksbühne sind indessen ...

taz: Welche Bedeutung und Funktion hat Theater heute für dich? Und warum arbeitest du am Theater?

Christoph Schlingensief: Es ist mir angeboten worden, deshalb bin ich da. Und Theaterbedeutung ist mir nicht ganz klar. Es gibt ja Theater für die Hummerfresserfraktion, fürs Feuilleton und für die Diskussionsfreudigen. An der Volksbühne gibt es eine neue Klientel, die daran gewöhnt ist, Reize sehr schnell aufzunehmen und für sich (!) zu verarbeiten. Ich selbst habe mit Theater eigentlich nichts zu tun. Vielleicht habe ich es zwanzigmal besucht und mich dabei meistens total gelangweilt. Ich bin auch nicht hier, um klassisches Theater zu machen. Spaß macht mir eher eine neue Form der Oper, Rhythmisierungen. Ich versuche zu bearbeiten, was mich wirklich interessiert. Dabei bin ich auf Symbolfiguren des intellektuellen Betriebes wie Erich Fried, Rosa Luxemburg, Petra Kelly etc. gestoßen, die nur noch Medienerfindung und keine Figuren mehr sind und deshalb nur noch in ihrer Macht als Potenzen wahrgenommen werden.

Warum bist du nicht beim Film geblieben? Dort muß du dich nicht auseinandersetzen mit einer Tradition, die dir nichts sagt.

Das ist ja das Interessante, daß diese Traditionen gar nicht mehr so aufgehen. Bei traditionsbewußten Leuten ist meine neue Inszenierung „Kühnen '94“ ja total durchgefallen. Da war von Hinz bis Kunz klar, daß es sich dabei nur um pubertäre Scheiße handelt. Andererseits gibt es offenbar auch Interessenten, denn das Stück ist immer ausverkauft. Ich denke, diesen pubertären Luxus leiste ich mir einfach. Das Reizvolle an Theater ist auch, daß es auch während der Vorstellung live reagieren kann auf das, was passiert.

Worum geht es deiner Ansicht nach in „Kühnen '94“?

Also, Michael Kühnen selbst interessiert mich überhaupt nicht, weil mich Museumswärter nicht interessieren. Reaktion und das reaktionäre Denken sind das Thema, nicht der Faschismus oder was dafür ausgegeben wird. Plötzlich zeigen die Leute von ihren Fenstern aus auf die Skinheads und schreien „Faschist“.

Die Richter-Skala der moralischen Bewertung schlägt aus bei Mölln und Solingen. Dann werden Katastrophen ausgerufen, Erdbeben. Aber alle, die damit zu tun haben, scheinen sich angesichts der Katastrophen nur noch zu stabilisieren. Dieses ganze Drumherum um eine solche Potenz wie Kühnen fokussiere ich, dem setze ich mich und den Zuschauer aus.

„Was soll denn das sein, ein Tabu?“

Als Zuschauerin hatte ich den Eindruck, ein aufgeklärt katholisch-moralisches Bürgersöhnchen holt angesichts der bösen Wirkungen der Medien zum trotzigen Rundumschlag aus. Man weiß nur nicht genau, wovon man eigentlich „befreit“ werden soll.

Das freut mich. Es geht nämlich nicht um Aufklärung oder Befreiung. Sondern ich sage ja: Selbstprovokation. Ich biedere mich doch nicht an, wie leider in der letzten Aufführung, wo ich „Provokation“ und „Tabuverletzung“ die ganze Zeit plärre und damit aber nur bestimmte Feuilletonisten im Publikum angesprochen habe. Ich habe nichts am Hut mit Tabus.

Aber natürlich. Wenn du deine Figuren nackt, entgleist oder „Heil Hitler“ schreiend über die Bühne jagst, hat das etwas mit Tabuverletzungen zu tun.

Nein, was soll denn das sein, ein Tabu? Tabu hat sich eine Firma in den siebziger Jahren genannt, die Pornofilme hergestellt hat. Das ist ein uralter Begriff, der überhaupt nichts bringt. Mit Selbstprovokation meine ich das Ausloten dessen, worum es einem geht und warum man etwas tut. Unsere Wahrnehmungen sind doch so von Snobismus und Gleichgültigkeit geprägt, daß wir uns existentielle Fragen eben nur da stellen, wo wir konkret berührt werden. Etwa nach einem Autounfall oder eben dann, wenn wir uns herausgefordert fühlen. Dann kommen plötzlich alle ins Schleudern, und das hat nichts mit Bubi, Mamasöhnchen oder Herrn Schlingensief im besonderen zu tun.

Du arbeitest ganz bewußt mit Reizfiguren, die inhaltlich besetzt sind wie Alice Schwarzer, Mutter Theresa, Herrn Frey, Leni Riefenstahl etc. Was sind denn deine Kriterien der willkürlich wirkenden Zusammensetzung?

Jedenfalls sollen nicht einzelne Personen wie Petra Kelly oder Mutter Theresa fertiggemacht werden. Ich gucke viel Fernsehen und lese viel Zeitungen. Dort begegne ich am laufenden Band solchen Potenzen oder Kräften wie Petra Kelly und dem Dalai Lama, auf die ich reagiere. Das sind Synonyme oder Indikatoren der offiziellen Bewertungslandschaft, wie sie von den Medien gemacht werden. Das heißt, Orientierungsfiguren, die für klare Positionen und Bewertungen einstehen, nach denen alle schreien.

Und worin unterscheidest du dich dann, wenn du völlig aus dem Kontext gerissen wiederholst, was du aus den Medien kennst?

Ich kriege keine Tantiemen, wenn ich das mache, und auch keine Senderechte. Außerdem ist Theater im Unterschied zum Fernsehen zum Anfassen und live, das heißt, es wirkt unmittelbarer.

Klare Botschaft? – Lüge!

Ist das deine Medienkritik? Überzogen zu zeigen, was man so alles sehen kann im Fernsehen?

Eine kritische Position gibt es in dem Sinne nicht, daß ich dir jetzt etwas auf den Tisch knalle und sage, daß ich mich da- oder dagegen wende. Es gibt keine klare Botschaft! Wer das für sich in Anspruch nimmt, der lügt.

Also eher eine Bestandsaufnahme?

Nein, auch nicht. Ganz trivial gehe ich von dem aus, was mich – auch als Kleinbürger – betrifft, wovon ich merke, es setzt etwas in mir in Gang. Also Katastrophen beispielsweise setzen Ideen frei, die ich dann in den Proben immer wieder so lange bearbeite, bis der Funkenschlag sich beruhigt hat. Reibung und Bewegung interessieren mich daran.

Wenn du Faschisten nur als debile Mutanten zeigst, ist das konkret inhaltlich banalisierend und entpolitisierend.

Die Figuren aus dem Bonengel- Film „Beruf Neonazi“, die in meinem Stück vorkommen, Althans und Zündel, sind für mich auch keine politisch ernstzunehmenden Figuren. Der eine läuft in KZ-Uniform herum, der andere wie Ludwig im wehenden Mantel, das finde ich einfach lächerlich.

Es gibt andere und ultrarechte Parteien, in denen ganz konkret politisch gearbeitet wird. Darüber hinaus sind Anschläge auf Menschen täglich überall in Deutschland Realität. Das ist doch nicht lächerlich.

Es bleiben für mich lächerliche Persönlichkeiten. Außerdem halte ich auch die Täter-Opfer-Debatte für verfehlt.

Das zeigt sich auch am neuesten Fall der Behinderten, die sich selbst das Hakenkreuz ins Gesicht geschnitten hat. Plötzlich gehen alle betroffen auf die Barrikaden, während sich niemand rührt, wenn achtzig andere Menschen zusammengeschlagen werden.

Das ist doch zynisch, ausgerechnet den Fall verallgemeinern zu wollen.

Zynismus vertrete ich nur, wenn Kleinbürger oder auch Linke nach radikalen Lösungen schreien. Der Punkt meiner Arbeit und Ästhetik liegt woanders. Ich gehe aus von konkreten Ängsten des Kleinbürgertums und der daraus resultierenden Obrigkeitshörigkeit, die wir alle abbekommen haben und die mir bis zum Hals steht. Das Kleinbürgertum ist immer das Zünglein an der Waage zwischen Rechts und Links gewesen, das heißt, die Klientel, die letztlich die Richtung entscheidet. Kultur spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, weil sie dafür sorgt, diese Ängste zu bebildern, zu beruhigen oder zu kanalisieren. Darum geht's.

Heißt das, politische Phänomene wie Neofaschismus sind bloß hysterische Projektionen?

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Man sollte darüber nachdenken, warum Katastrophen für uns so wichtig sind oder gemacht werden. Wenn Herr Schirinowski beispielsweise in Rußland regieren sollte und ein paar Tests fährt, wissen wir angeblich, was es da zu verteidigen gibt. Ich wehre mich dagegen, daß wir diese Katastrophenzustände brauchen, um zu wissen, wer wir sind und wo wir stehen.

Warum sollte man sich dann deinem Katastrophentheater aussetzen?

Na, weil es auch Lust und Spaß macht. Das ist unterhaltend und soll es auch sein.

Reaktion auf tägliche Katastrophen

Das müßte dann aber schon eine masochistische Lust sein, sich mit Vergewaltigungsszenen und kreischenden Debilen zu konfrontieren.

Wieso? Viele Leute finden, daß es interessant und amüsant ist zu sehen, worüber andere sich aufregen. Das ist zwar von oben herab gedacht. Aber wenn du schon ein Thema festmachen willst, dann geht es eben auch um Rezeptionshaltungen in meinen Stücken. Dabei gehe ich einfach von mir als einem Durchschnittsmenschen aus und verarbeite stellvertretend meine Reaktionen auf die täglichen Katastrophen. Dabei ist mir auch Ironie wichtig. Die wird mir ja ständig abgesprochen.

Im Gegenteil. Das ist gerade mein Problem mit deinen Stücken. Daß du alle Themen und „Ikonen“ von rechts nach links derart pauschal ironisierst, bis sie völlig verstellt und sinnentleert sind.

Ich stehe doch nicht über den Dingen, und ich präsentiere sie auch nicht als Konzeptkünstler, sondern pur. Weil ich intuitiv und emotional vorgehe, kommen natürlich auch eigene Obsessionen und Sensationslust mit rein. Etwa wenn es darum geht, eine 160 Kilogramm schwere Frau nackt auf der Bühne zu inszenieren, dann gerate ich auch an eigene Schamgrenzen, die sich dann wiederum als überflüssig erweisen. Aber Sehgewohnheiten zu verändern ist absolut nicht mein Anspruch. Das macht das Fernsehen sowieso schon tausendmal besser. Man müßte schon mit einem Messer in die Augen stechen – dann verändert man vielleicht die Sehgewohnheiten.

Ist „Kühnen 94“ also eine Art Psychohygiene?

Nein, ein passender Begriff ist Feldforschung. Ich will ja niemanden reinigen, sondern mit Kräften spielen, die von solchen Phänomenen wie Michael Kühnen ausgehen. Wie im Wellenbad etwa, wo Energien zugespielt, dann wieder zurückgezogen werden. Daß überhaupt Denkprozesse oder emotionale Reaktionen in Bewegung gesetzt werden, setzt natürlich voraus, daß das Publikum nicht schon von vorneherein völlig abgeklärt ist und schon weiß, wie es auf das Stück zu reagieren hat.

Wie würdest du als Zuschauer auf Schlingensief-Theater reagieren?

Ich glaube, ich würde auch an vielen Punkten denken: „Dieser alte Wichser“. Ich könnte wahrscheinlich nicht ertragen, daß jemand so etwas macht, und würde ständig denken, das kann ich besser, oder so.

„Die Beichte führt zur Heuchelei“

Wo würdest du dich selbst einordnen?

In keine Schublade. Aber ich bin eindeutig ein Kind der Sechziger, und da stehe ich eigentlich auch heute noch. Flipper, Bonanza, Popkultur, Aktionismus oder im Film so Figuren wie Vlado Christl, auch Patallas, Gregors usw. – um nur ein paar Namen und Stichworte zu nennen –, damit bin ich aufgewachsen, damit habe ich zu tun. Und die sechziger Jahre haben ja auch Kultur bis heute geprägt und verändert. Aber ich bin kein Vergangenheitsbewältiger im Sinne der 68er.

Themen wie Zweiter Weltkrieg, sieben Millionen Tote, Faschismus der dreißiger Jahre etc. sollten einem auch in den neunziger Jahren präsent sein. Aber wenn heute in den Medien von Krieg gesprochen wird, dann denke ich an Sarajevo.

Woran arbeitest du weiter?

„Aktion privat“ ist der Titel der nächsten Arbeit, und da geht es um eine Frau, die ins Kloster will, dort aber eine Geschichte erzählt, die da eigentlich nicht hingehört. Eine Anarchistin...

Apropos Katholizismus. Der spielt ja offensichtlich eine Rolle für dich.

Na klar. Meinen Katholizismus, den kriege ich doch nicht weg. Ich wäre doch ein total verlogener Hund, wenn ich nach 14 Jahren Meßdienerschaft behaupten würde, jetzt den Absprung gemacht zu haben. In der Zeit sind eben auch spannende Sachen passiert. Da gab es einen Chor und eine Bühne, die Rituale und die Institution der Beichte. Die Beichte führt ja auch zur Heuchelei, weil man sich im Unterschied zum Protestanten, der alles mühsam analysieren und ertragen muß, aller Sünden sofort wieder entledigen kann. Man kann sie eben ständig wiederholen.

Und du bist nicht verlogen?

Nein, ich habe vielleicht tausend andere Schwächen, aber die, glaube ich, nicht.

Interview: Christiane Voss