Russisch für Anfänger
: Karl & Max

■ Über Rußlands harte, hölzerne und flüssige Währungen

Jura, ein Bekannter, erzählte mir neulich folgenden Witz. „Frage an Radio Eriwan: In welchem Verhältnis stehen Dollar, Rubel und ein Pfund Sterling? – Ganz einfach: 1 Pfund Rubel kostet einen Dollar.“

Rußland träumt den American dream. Das heißt: Es träumt vom Dollar. Der Rubel rollt nämlich nicht mehr. Er fällt ins Bodenlose und macht alle Rubelverdiener automatisch zu sozialen Verlierern. Jura allerdings ist ein junger Millionär, einer der sogenannten New Russians, wie die englischsprachigen Medien diese neue Generation der russischen Businessmeni bezeichnen. Jede Woche transportiert Jura seinen wöchentlichen Rubelerwerb im großen Lederkoffer zur Bank, um ihn gegen „echtes Geld“ umzutauschen. Ein psychisches Trauma spricht aus dem Traum, den er mir neulich erzählte: Durch die öde, verschneite russische Steppe eilt eine Troika dahin. In der Postkutsche sitzt ein General, er ist in Eile und treibt den Kutscher an, – soweit ein klassisches Genrebild aus der russischen Literatur. Vom großrussischen Reich träumte man eben auch während der langen ruhigen Nächte des Sozialismus. Die Fortsetzung des Traums bringt aber eine überraschende Aktualisierung des historischen Szenarios: Die Troika kommt endlich zur Poststation; der General ist zufrieden und gibt dem Kutscher Trinkgeld, aber statt mit einem Fünfzehnkopekenstück bedankt er sich mit einem grünen Schein – einem US-Dollar. „Wieso eigentlich?“, fragt sich der Businessman im Traum, „der Rubel war doch damals konvertibel und durch den Goldschatz des Reiches gestützt!“

Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühle bestimmen das Verhältnis der Businessmeni zur einheimischen Währung, die nicht umsonst „hölzerner“ Rubel genannt wird. Erst die heutige Hyperinflation hat den Rubelverdienern nahegebracht, was „echtes Geld“ ist. Die sowjetischen Werktätigen lebten vorher nach dem Motto: „Sie tun so, als ob sie unsere Arbeit bezahlen, und wir, als würden wir arbeiten.“ Der Rubel hatte damals schon nur eingeschränkte Geldfunktion. Er diente lediglich als ein „Mittel zur Berechnung und gesellschaftlichen Kontrolle“, wie ihn die Wirtschaftstheorie des Sozialismus ganz treffend definierte. „Allgemeines Äquivalent“ (K. Marx) war das Papiergeld in der Sowjetunion nie. In dieser Rolle fungierten verschiedene Naturalien, insbesondere eine allgemein anerkannte flüssige Valuta: der Wodka. Noch vor zwei Jahren sah man an den Türen vieler Weinläden solche Zettel: „Miete Einzimmerwohnung für Flasche Wodka pro Tag. Selbst kein Trinker.“

Diese Währung war durch und durch stabil, wie im folgenden Witz über einen Ökonomen und einen Autoschlosser. Der erste erklärt die Inflation: „Bei Chruschtschow“, sagt der Ökonom, „kostete eine Flasche Wodka drei Rubel zweiundsechzig; unter Breschnew – 4,12; bei Gorbatschow – 5,20. Und jetzt zahlst du 500.“ – „Es ist mir alles gleich“, antwortet der Schlosser. „Wenn du bei mir deinen Wagen reparieren läßt, dann zahlst du nach wie vor eine Flasche für die Fensterscheibe oder zwei für einen Reifen. Was sie kosten, ist dein Problem.“

Und in der Tat, wozu brauchte man noch Geld, wenn „die Freude der Reußen das Trinken ist“, wie schon der Gründer des russischen Staates, Fürst Wladimir, sagte. Die erste russische Chronik erzählt, daß der heilige Fürst unter den Weltkonfessionen die neue Staatsreligion wählen sollte und den Islam nur deshalb ablehnte, weil die Lehre des Propheten zu saufen verbietet. Die ganze tausendjährige Geschichte Rußlands hat die Richtigkeit seiner Wahl zugunsten des orthodoxen Christentums bestätigt. „Der Weinbrand ist sogar den Mönchen gut bekömmlich“, hieß es im Volksmund. Erst der Zusammenbruch des Sozialismus brachte die Umwertung aller traditionellen Werte. Die einstigen überzeugten und stolzen Alkoholiker konvertieren von traditionellen Naturalwerten wie Wodka zur Orthodoxie der frei konvertiblen Valuta. An die Stelle des orthodoxen Ikonostas mit seiner Hierarchie der Heiligen sind nun für die Reußen die Ikonen des American dream getreten: die Altväter Amerikas von George Washington (auf dem Eindollarschein) bis Franklin (auf dem Hunderter). Es ist, als predige den Russen vom Einhundertdollarschein leibhaftig Benjamin Franklin: „Bedenke, daß die Zeit Geld ist. Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen, und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort. Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling.“ Der Geist des Kapitalismus, der sich hier manifestiert, gründet nach Max Weber auf der protestantischen Ethik. Die Wirtschaftsreform kann man also auch als verspätete Reformation verstehen.

In Rußland zeugt Geld heute jedenfalls neues Geld so schnell wie wohl sonst nirgends in der Welt. Jeder hat die Wahl, sein Kapital zu versaufen oder mit 10 bis 20 Prozent monatlicher Rendite zu verleihen – vorausgesetzt, man vertraut dem „Businessman“. Und dieser versteht sehr wohl, daß Vertrauen auch Kapital ist. Oder – so wieder Max Weber – daß die Ehrlichkeit einfach nützlich ist, weil sie Kredit bringt. Nur so können die New Russians ihre 70 bis 100 Prozent Gewinn mit dem geliehenen Geld erzielen. Erst jetzt begreifen die ehemaligen Komsomolzen und Kommunisten, die alle pflichtgemäß den Marxismus studierten, was es in Wirklichkeit ist, das Kapital. Das Marxsche Gespenst des Kommunismus geht nicht mehr in Rußland um. Der Webersche Geist des Kapitalismus hat es vertrieben. Boris Schumatsky