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Gesucht: Ein slowakischer Ministerpräsident

Seit gut einem Jahr ist die Slowakei unabhängig, doch die mit der Unabhängigkeit verbundenen Hoffnungen haben sich nicht erfüllt / Die Suche nach einer Alternative zur Politik von Premier Vladimír Mečiar hat bereits begonnen  ■ Von Sabine Herre

„Eigentlich“, meint Roman Kováč, stellvertretender Ministerpräsident der Slowakei, „eigentlich stehen wir doch gar nicht so schlecht da. Denn entgegen der Prognosen sind wir nicht auf Knien nach Prag zurückgekrochen.“ Und „eigentlich“ hat Kováč nicht Unrecht. Im ersten Jahr der slowakischen Unabhängigkeit haben sich die Raten von Inflation und Arbeitslosigkeit nur geringfügig verschlechtert, ist es der Republik trotz zahlreicher Hindernisse gelungen, Mitglied des Europarats zu werden. Der Assoziierungsvertrag mit der EU steht, die Diskussion über Sinn und Unsinn der Teilung der Tschechoslowakei ist seit langem beendet. Die Slowakei ist seit dreizehn Monaten selbständig, und auch diejenigen, die dies stets ablehnten, haben sich auf die neue Realität eingestellt.

Zumal sich die schlimmsten Befürchtungen der Unabhängigkeitsgegner nicht erfüllt haben: Die Opposition wurde nicht mundtot gemacht, und die vor der Teilung immer wieder zu hörende Prognose, daß sich in der Slowakei ein national-sozialistisches Regime herausbilden werde, hat sich ganz einfach als falsch erwiesen. Das – vor allem von den Tschechen angewandte – Analyseraster war für die slowakische Realität zu grob.

Und doch gibt es hinter dem „eigentlich“ des Roman Kováč ein „tatsächlich“. Tatsächlich, so muß selbst der Vizepremier zugeben, ist die Privatisierung zum Stillstand gekommen, liegt der Wert der slowakischen Krone um mehr als zehn Prozent unter dem der tschechischen. Tatsächlich hat die regierende „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) seit den letzten Wahlen im Juni 1992 rund die Hälfte ihrer Anhänger verloren. Tatsächlich nimmt der Westen fast nur Tschechien, nicht aber die Slowakei als Gesprächs- und Geschäftspartner war. Die SlowakInnen sehen 1994 nicht mit „gemischten“, sondern mit „schlechten Gefühlen“ entgegen. Es ist, als erwarten sie von diesem zweiten Jahr der Unabhängigkeit die Entscheidung über den zukünftigen „Platz“ ihrer Republik in Europa. Die Slowakei befindet sich in einem Zwischenstadium.

Klar ist den SlowakInnen aber auch, daß die Entscheidung über den zukünftigen Kurs ihres Landes von der Entscheidung über die politische Zukunft eines einzigen Politikers abhängt. Seit den Verhandlungen über die Auflösung der Tschechoslowakei gilt Ministerpräsident Vladimír Mečiar als der „starke Mann“ der Slowakei, doch schon im ersten Jahr der Unabhängigkeit der Republik hat die parlamentarische Opposition nicht nur einmal seinen baldigen Sturz prognostiziert. Zuletzt Ende Dezember 1993, als die HZDS nicht nur Probleme mit der Erstellung eines Haushaltsplans, sondern auch mit ihrem Koalitionspartner, der Slowakischen Nationalpartei, hatte. Mečiars Bewegung HZDS schien vor der Spaltung zu stehen, und auch die innerparteilichen Gegner des Premiers waren dem Plan, in einer Koalition mit den Christdemokraten und der „Partei der demokratischen Linken“ (SDL) den Premier loswerden zu können, nicht abgeneigt. Die Verantwortung für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung wollten sie auf Mečiar schieben – und dennoch an der Macht bleiben.

Doch die Formierung einer Alternative zu Mečiar scheiterte. Der SDL-Vorsitzende Peter Weiss stimmte – „aus Versehen“ wie er später reumütig bekanntgab – für den Haushaltsplan, dieser wurde mit knapper Mehrheit angenommen. Es gab in Bratislava jedoch nicht wenige, die hinter dem Votum von Weiss ein abgekartetes Spiel vermuteten. Vladimír Mečiar, so hieß es, habe dem Ex-Kommunisten versprochen, das gegen Kommunisten und Stasimitarbeiter gerichtete „Durchleuchtungsgesetz“ aufheben zu lassen. Daß Mečiar das politische Geschäft versteht, wird von keiner Seite bestritten. Nun hatte er sich erneut durchgesetzt.

Eine Entwicklung, die diejenigen Oppositionellen bestätigt, die einen Machtwechsel noch vor den nächsten Parlamentswahlen im Frühjahr 1996 für weniger realistisch halten. So ist Zuzana Szatmary, Programmdirektorin der Charta-77-Stiftung, der Ansicht, daß die Popularität des Premiers gerade bei den „einfachen Leuten“ in der „zurückgebliebenen“ Mittelslowakei immer noch groß ist. Im Unterschied zum multikulturellen ostslowakischen Košice sei dort die Wahrnehmung der europäischen Vielfalt auf ein Minimum beschränkt. Die Leiter der unrentablen staatlichen Industriegiganten stützen Mečiar und seine Wirtschaftspolitik – die Verzögerung der Privatisierung stützt sie.

Viel wichtiger ist für die Charta- Vertreterin jedoch die Unfähigkeit ihrer eigenen MitstreiterInnen. „Bei uns wird ständig über Kompromisse geredet, doch für die meisten heißt dies, daß der andere sich der eigenen Position annähern soll.“ Und: „Mečiar spricht die sogenannte Sprache des Volkes, er ist eine Führerfigur. Die Opposition spricht die Sprache der Intellektuellen und erwartet, daß die Bevölkerung sie erlernt. Einen Politiker, der die Rolle Mečiars übernehmen könnte, gibt es in unseren Kreisen nicht.“

Genau aus diesem Grund scheinen auch die schärfsten Kritiker der Mečiar-Partei einen Politiker eben dieser Partei als Alternative zu Mečiar zu akzeptieren: Staatspräsident Michal Kováč spricht es zwar nicht offen aus, doch jeder weiß, daß er mit seinem Vorschlag, eine „große Koalition“ zu bilden, auf eine große Koalition ohne Mečiar zielt. Punkte sammelte Kováč in den letzten Wochen vor allem in zwei Bereichen. Während die slowakischen Nationalisten auf die Forderungen der ungarischen Minderheit nach regionaler Selbstverwaltung in der Südslowakei mit Protestversammlungen reagierten, war er bereit, die Vertreter dieser Minderheit zu Gesprächen zu empfangen. Während Mečiar nach Ansicht der Opposition einem Beitritt der Slowakei zur Nato eher ablehnend gegenübersteht, gehört Kováč zu einem der entschiedensten Verfechter.

Genau an diesen zwei Punkten läßt sich dann auch der entscheidende Unterschied zur momentanen Orientierung der Slowakei festmachen. Natürlich betont auch Mečiars Stellvertreter Roman Kováč die Notwendigkeit der Mitgliedschaft in Nato, EG und Europarat. Doch immer wieder klingt bei ihm durch, daß Europa die Slowakei zu „verstehen“ hat und nicht umgekehrt. „Wir werden die Anforderungen des Europarats nur erfüllen, wenn sie uns verständlich erscheinen“, meint ein HZDS- Sprecher. Und HZDS-Kritiker Martin Šimečka bestätigt: Mečiar wird sich von Europa abwenden, wenn er merkt, daß Europa ihn und seine Politik nicht akzeptiert. Erste Anzeichen gab es bereits: Die Regierung versuchte, die slowakischen Sendungen von Radio Free Europe zu verhindern.

Um seine Politik durchzusetzten und seine Macht zu erhalten, setzt Mečiar somit auf eine Politik der Stärke. Tatsächlich jedoch fühlt sich die Regierung eher schwach. Zu dem bereits traditionellen Minderwertigkeitsgefühl kommen die Niederlagen bei den Verhandlungen über die Teilung des CSFR-Besitzes, kommen die Niederlagen in Außen- und Wirtschaftspolitik. Tschechien war immer der Sieger – und dies hatten die Slowaken durch die Teilung doch eigentlich ändern wollen. Die im „Unabhängigkeitskampf“ geweckten Hoffnungen konnten nicht erfüllt werden, und so wird die Beschwörung der Nation Mečiar heute nicht mehr helfen. Zwar zeigt Roman Kováč noch immer eine Vorliebe für die Worte „wir“ und „unser“. Doch selbst die BewohnerInnen der Mittelslowakei haben in erster Linie wirtschaftliche und nicht nationale Interessen.

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