Lwow heißt Lwiw

■ Ein Dokumentarfilm über Lemberg auf arte, 19.30 Uhr

„Wir können ukrainisches Fernsehen, einen polnischen TV-Sender und RTL sehen“, sagt ein kleines Mädchen. „Und Superchannel“, ergänzt sie mit leuchtendem Blick. Superchannel – das ist ein Zauberwort, das nach Amerika, Reichtum und Welt klingt. Wer es ausspricht, scheint am Glanz eines Versprechens teilzuhaben. Die Kamera fährt zurück, und wir sehen die Ödnis einer realsozialistischen Vorstadt. Im Schaufenster liegt eine leere Schokoladenverpackung, eine Plastiktüte mit aufgedruckter Reklame, Lippenstift und eine Sony-Kassette – Insignien neuer Konsumträume.

Lemberg, so wird im Off vermerkt, hat mit dem Schauplatz von Joseph Roths Romanen, mit jener jüdisch-polnischen Handelsstadt mit Wiener Kaffeehäusern, kaum noch etwas gemein. Lemberg ist eine Industriestadt sowjetischen Typs, geprägt von den Plattenbauten, überfüllten Bussen und wackeligen Straßenbahnen. Knapp fünfzig Jahre trug Lemberg den russischen Namen Lwow, nun heißt es auf ukrainisch: Lwiw.

In Westeuropa ist die Ukraine unbekanntes Terrain. Im vorderen Teil der Zeitungen liest man manchmal von Tschernobyl und Atomwaffenverschrottung, mehr nicht. Eine Museumsführerin beschwört in der Gedenkstätte einer berühmten Operndiva weltweiten Ruhm und vergangene kulturelle Bedeutung der Ukraine. Walter Moßmann und Didi Danquart berichten von verwunderten und gekränkten Fragen: Warum kennt ihr die Kruschelnitzka nicht, die mit Caruso sang, warum nicht unseren Nationaldichter Schewtschenko? Warum sind wir für euch nur eine beliebige russische Provinz? Warum kennt ihr uns nicht?

Der Umbruch hat eine ungewisse Zukunft aufgerissen und unerledigte Vergangenheiten zu Tage gefördert. Auf dem zentralen Platz hat 1990 eine Schewtschenko-Statue Lenin abgelöst. Der Leninprospekt heißt nun Svoboda- Prospekt, Freiheitsallee. Moßmann und Danquart zeigen, eher verhalten, die Zwiespältigkeit des ukrainischen Nationalismus, der auf den Ruinen des Sowjetreiches blüht.

Das Schewtschenko-Denkmal wurde schon vor hundert Jahren geplant, als Symbol wider die Herrschaft von Polen und Russen. Aber bei der Einweihung des neuen Symbols tönt das Pathos schrill und blechern. Man spürt, wie sehr der Nationalismus die wirtschaftliche Katastrophe, den drohenden Abstieg in die Dritte Welt übertüncht. „Die Regierungspartei ,Ruch‘ hat ihre Siege vor allem auf symbolischer Ebene erreicht“, heißt es ironisch im Off.

„Lemberg – geöffnete Stadt“ (der Titel spielt etwas ambitiös auf Rosselinis „Rom – offene Stadt“ an) ist ein Zwitter von Reportage und Essay, von Stadtporträt und Exkursion in fremdes Gebiet, das die Autoren mit ihrer eigenen Herkunft konfrontiert. „Vor fünfzig Jahren war mein Vater hier Soldat“, textet Moßmann.

„Die deutschen Fragen“ lautet eines von sechs Kapiteln: eine knappe Spurensuche nach der ausgelöschten jüdischen Kultur in Galizien. Vor einem unauffälligen Hundeübungsplatz sehen wir einen Mann, der vor fünfzig Jahren dem Terror der Deutschen entkam. „Verstehen Sie diesen Ort?“ fragt der Mann in jiddisch. „Hier liegen 200.000 erschossene Menschen, die die Nazis umgebracht haben.“ Kein Schild, kein Gedenkstein weist darauf hin, daß hier früher ein Lager war.

Didi Danquarts Kamera vermeidet wertende Einstellungen, der Kommentar feste Urteile. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Aus klugem Mißtrauen in vorschnelle Vertrautheiten erwächst eine Zurückhaltung, die Klischees umschifft – aber auch ein Mangel an Nähe und Zuspitzung. „Lemberg war erst einmal die fremdeste Fremde“, hat Walter Moßmann gesagt. Sein Film bezeugt auch diese Ferne. Stefan Reinecke

Am nächsten Dienstag ebenfalls um 19.30 Uhr folgt das letzte von drei osteuropäischen Stadtporträts auf arte: „Reiseweg zur Geschichte: Czernowitz“.