■ Das Portrait
: Ludwig Marcuse

1968 schrieb Jürgen Habermas über Herbert Marcuse: „Mit Ludwig verwechselt ihn heute keiner mehr.“ Heute, da Ludwig hundertsten Geburtstag feiern könnte, ist die Verwechslung der beiden, die außer dem Namen nichts gemein hatten als ein jüdisches Emigrantenschicksal in den Vereinigten Staaten, eher die Regel: Herbert, dessen Stern mit dem der APO sank, und Ludwig, dessen Stern nie sehr stark geleuchtet hat – beide halb vergessen. – Ludwig Marcuse hat bei Georg Simmel studiert: Als der Privatdozent Simmel nach jahrzehntelangen antisemitischen Intrigen doch noch eine Professur bekam, folgte ihm der Student Marcuse aus Berlin in die Provinz. Seine Schriftstellerei begann im Berlin der frühen zwanziger Jahre mit Theaterkritik. Erst in der Emigration wurde er hauptberuflicher Literaturkritiker. Er war mit Joseph Roth, Alfred Döblin und Hermann Kesten befreundet und schrieb auch über sie. Die Aporien der Avantgarde umschiffte er wohlweislich – das Experimentelle war seine Sache nicht.

Ludwig, nicht Herbert! Ihm fiel viel ein Foto: taz-Archiv

Was mit der Erinnerung an Ludwig Marcuses Interventionen in der deutschen literarischen Öffentlichkeit verloren geht, zeigt ein Blick in seine Schriften über Obszönität. Marcuses radikal liberale Verteidigung des Obszönen – auch da, wo es von keinem Kunstwillen gedeckt ist – steht meilenweit über dem neopuritanischen Muff, der einem in heutigen Pornographie-Diskussionen entgegenschlägt. Da ist ein freier Geist wiederzuentdecken.

Ein freier Geist, wie er auch aus der Verteidigung Nietzsches spricht, die Marcuse 1944 (!) im New Yorker Aufbau, der Zeitung der jüdischen Emigranten, unternahm. Nietzsche, so Marcuse, ist kein Nazi avant la lettre, auch wenn sich Hitler noch so gerne als Nietzscheaner aufführt. Ebenso bemerkenswert seine Position zu den „Fällen“ Heidegger und Benn: Er verteidigte nachhaltig „Sein und Zeit“ und plädierte trotzdem für ein Berufsverbot, um nicht „den allgemeinen Zynismus zu vermehren“; die Bewunderung für Benns Lyrik machte ihn nicht blind für dessen politische Blindheit. Daß sich Sinn für solche Ambivalenzen und ein klares Bild der moralisch-politischen Lage nicht ausschließen, sondern befördern, das wäre doch schon kein gar so übles Ergebnis der Marcuse- Lektüre heute. Jörg Lau