Wird Beutekunst zum Wahlkampfgag?

Die Rückgabe der Gothaer Bibliothek mitsamt der Lutherbibel aus Moskau verzögert sich  ■ Von Anita Kugler

Berlin (taz) – Die Verhandlungen um die Rückführung der kurz nach dem Krieg von der sowjetischen „Trophäenkommission“ in Deutschland beschlagnahmten Kunst, der Archive und Bibliotheken erinnern ein wenig an Fußballer-Transfers. Die Verträge sind ausformuliert, die Unterschriften geleistet, die Presse steht bei Fuß, und dann klappt es doch nicht aufgrund irgendwelcher Empfindlichkeiten, die niemand erklären kann. So scheint es jetzt auch um den Bücherschatz der Landes- und Forschungsbibliothek von Gotha zu stehen. 5.815 Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, darunter eine auf Pergament gedruckte Lutherbibel mit Holzschnittillustrationen aus dem Jahre 1541 liegen in Moskau hübsch in Kisten verpackt und hätten eigentlich in diesen Tagen in Gotha eintreffen müssen. Noch vor ein paar Tagen freute sich der mit den Rückgabeverhandlungen betraute Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt und Leipzig, Klaus-Dieter Lehmann, über die „baldige Ankunft“. Es hinge nur noch an technischen Kleinigkeiten, wie am „Ausfüllen von Zollerklärungen und der Entscheidung über den Transportweg“, sagte er zur taz. Er jedenfalls sei überzeugt, daß die Übergabe noch Anfang Februar in einem feierlichen Festakt auf dem Schloß zu Gotha stattfinden könne und stelle „schon mal den Sekt kalt“.

Wahrscheinlich hat der Generaldirektor sich aber zu früh gefreut. So befürchten jedenfalls gewöhnlich gut unterrichtete Kreise im Bundesinnenministerium und Restitutionsexperten. Zwar soll Präsident Boris Jelzin vor zwei Tagen das Übergabedekret unterzeichnet, die Gothaer Versicherung gar ein Flugzeug gechartert haben, um die wertvolle Fracht nach Hause zu bringen, aber sie kommen nicht. Jedenfalls nicht in den nächsten Tagen. Möglicherweise trifft zu, was der in Moskau recherchierende russische Journalist Armin Bluhm schon vor Wochen artikulierte. Daß nämlich die in den deutsch-russischen Verhandlungen als hoch sensibel eingeschätzte Rückgabeaktion zu einem Wahlkampfgag der Politiker verkomme. Adenauer habe nach seinen ersten Moskauer Gesprächen die Kriegsgefangenen mitgebracht und Kohl wolle jetzt mit der „gefangenen Kriegskunst nachziehen“, sagte Bluhm neulich. Und dies habe nur seine Wirkung, meinen auch Insider resigniert, wenn es möglichst spektakulär daherkomme. Denkbar sei es, daß entweder Außenminister Klaus Kinkel mit ein paar Büchern Ende Februar aus Moskau zurückkäme oder, noch fernsehgerechter, Helmut Kohl mit der Lutherbibel im Handgepäck Mitte Mai.

Eine so Stück für Stück verplemperte Übergabe haben jedenfalls die vier deutsch-russischen Verhandlungskommissionen, je eine für Museumsgüter, Archive, Bibliotheken und eine für Rechtsfragen, nicht verdient, und sie könnte auch in Rußland verhängnisvolle Folgen haben. Denn im Unterschied zu allen anderen zurückgehaltenen Kulturgütern, etwa dem Schatz des Priamos, dem Goldschatz von Eberswalde, den Gemäldesammlungen aus Bremen, Dresden, Gotha, der Impressionistensammlung Krebs aus Weimar, der ostasiatischen Sammlung aus Berlin, den Bibliotheken von Dresden und Leipzig und und und – die Schätzungen gehen bis zu anderthalb Millionen Objekten – muß die Rückgabe der 5.871 Bücher aus Gotha nicht vom russischen Parlament abgesegnet werden. Denn hier muß nur ein Vorgang abgeschlossen werden, der 1956 begann. Damals erhielt die Landesbibliothek Gotha etwa 330.000 Bücher zurück, also fast alle der insgesamt 400.000 Bücher, die die Trophäenkommission der Roten Armee wenige Monate nach Kriegsende erbeutet und in der St.-Annen-Kirche in Uskoje bei Moskau zwischengelagert hatte. Zurückgehalten wurden die wertvollsten Stücke, also die, die jetzt in Umzugskisten liegen, und einige zehntausend Bücher, über deren Verbleib niemand informiert ist. Alle anderen zurückgehaltenen Kunstwerte, vor allem das Schliemann-Gold, hatte Stalin in staatliche Einrichtungen überführt und das „Beutegut“ zum Bestandteil des „Nationalfonds“ erklärt. Eventuelle Rückführungen bedürfen seitdem der Zustimmung des Obersten Sowjets beziehungsweise heute des russischen Parlaments.

Nur einen Bruchteil dieser zu „Nationalgut“ erklärten Beuteschätze haben deutsche Fachleute bisher gesehen. Und die kürzliche Meldung, daß Ende 1994 oder Anfang 1995 der „Schatz des Priamos“ im Puschkin-Museum ausgestellt werden soll, sorgte weltweit für eine Riesenaufregung. Denn bisher bestritt die Museumsleiterin sogar dessen Existenz in Moskau.

Wenn jetzt Politiker, die in Deutschland Wahlen gewinnen wollen, den Fachleuten durch spektakuläre Mitbringsel den Wind aus den Segeln nehmen, werden die Rückgabeverhandlungen noch mehr politisiert, als sie ohnehin schon sind. Die starke nationale Opposition im russischen Parlament könnte bei weiteren geplanten Übergaben, eventuell bei der Gutenberg-Bibel aus Leipzig, ihr Veto einlegen und damit ein Präjudiz geschaffen haben. Zunichte wäre damit die ganze Arbeit, die die deutsch-russischen Restitutionsfachkommissionen seit Februar 1993 leisten. Denn damals wurde im sogenannten Dresdner Protokoll ein genaues Procedere festgelegt, ein mehrstufiges Verfahren, an das sich die Bibliothekskommission unter Leitung von Generaldirektor Lehmann genau gehalten hat: Erst Verlustlisten austauschen, dann Verluste orten, Bestandslisten vergleichen, Eigentumsrechte anmelden und diese zum Schluß von der Rechtskommission überprüfen lassen. Im Fall der Bücher aus Gotha lief dies alles, so Lehmann, „unabhängig vom politischen Tagesgeschäft“ und beflügelt von den anderthalb Millionen Mark, die die Bundesregierung in Form von Computern, Druckereiausrüstung und wissenschaftlichen Büchern zugesagt hat, „hervorragend“. Wenn jetzt aber die Rückführung in den Wahlkampfsog gerät, könnte Rußlands Opposition Morgenluft wittern und mit einem „Njet“ Boris Jelzins Männerfreundschaft zu Kohl zerstören. Das wäre zwar eine Verletzung des Freundschaftsvertrages von November 1990, in dem die Rückgabe „verschollener“ Kulturgüter grundsätzlich vereinbart wurde, aber stört das einen Schirinowski?