Nachsaison, verregnet

■ Klasse Flirt-Tips für junge Väter im neuen Roman von Jean-Philippe Toussaint

Was hat er nicht für komische Heilige erfunden, köstliche, mit wunderbaren Macken ausgestattete, also unfehlbar an dich und mich erinnernde junge Männer knapp diesseits der Dreißig – der belgische Dichter, der auch noch Toussaint heißt: alle Heiligen. Der Ich-Erzähler des ersten Romans „Das Badezimmer“ weigerte sich zunächst standhaft, seine Badewanne zu verlassen; schließlich fuhr er unverhofft nach Venedig und hatte nicht einmal eine Unterhose dabei. Ihm folgte „Monsieur“: eine Art Yuppie, der sich dazu herbeiließ, einem Nachbarn irgendein idiotisches Manuskript abzutippen. „Monsieur konnte nichts abschlagen.“ Der Held des dritten Romans „Der Photoapparat“ hatte die schlichte Absicht, den Führerschein zu machen, bevor er auf die abstrusesten Abwege geriet... All diese Figuren changierten zwischen Mimikry und Verweigerung, ihre Widersprüche waren fruchtbar, ihr Charme nahm den Leser für sie ein. Irgendwelche erzählerischen Raster hat Jean- Philippe Toussaint nicht benötigt: Die Texte schufen sich ihre Gesetze selbst. Nie hat der Autor sich für die Motive seiner Figuren interessiert; um so mehr für ihre Strategien.

Das – und nur das – gilt auch für den neuen Roman „Der Köder“. Daß es sich hier um einen Kriminalroman handle – also um eine Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Verbrechen steht –, behauptet freilich nur der Klappentext; der Autor hütet sich wohlweislich davor, die Gattungsbezeichnung „Roman“ näher zu spezifizieren. Doch spielt „Der Köder“ vom ersten Takt an unüberhörbar frivol und kokett auf der Klaviatur des Krimis. Im ersten Satz treibt eine tote Katze im Hafen, in ihrer Schnauze steckt ein Köder, ein Fischkopf mit einer abgerissenen Angelschnur. Die Katze, wird der Erzähler später schlußfolgern, ist offensichtlich ermordet worden. Er schlußfolgert so manches. Nun gut, wen das Geheimnis der toten Katze ernsthaft interessiert, muß das Buch nur zu Ende lesen: Am Schluß wird's gelüftet. Der Rest bleibt im dunkeln, besser gesagt: im fahlen Zwielicht verregneter Novembertage am Meer. Der Ich- Erzähler ist in der Nachsaison in den verlassenen Badeort gekommen, um einen gewissen Biaggi zu treffen. Er trifft ihn nicht. Wer Biaggi ist und was der Erzähler von ihm will, erfährt der Leser auch am Schluß nicht. Enttäuschend.

Gewiß, auch in seinen früheren Romanen hat Toussaint uns über die Motive seiner Figuren im unklaren gelassen. Aber das waren eben auch keine Kriminalromane. Ein Kriminalroman, in dem man nichts über die Motive der Figuren erfährt, ist ein Unding. Der Plot des „Köders“ besteht aus zwei oder drei „MacGuffins“: So hat Hitchcock die Scheinmotive genannt, an denen er die Handlungsfäden seiner Filme aufzuhängen pflegte – um die wirklichen Motive in der Psychologie seiner Helden sichtbar zu machen. Toussaint verfügt nicht einmal über ein Schema, allenfalls über den Schemen einer Handlung. Er läßt ein Genre leerlaufen. Das ist alles.

Zur Ehrenrettung des Autors ließe sich sagen, dies sei gar kein Kriminalroman. Natürlich begreift man, daß der Held ein hoffnungsloser Paranoiker ist – wieder so eine hübsche Macke –, der sich auf Schritt und Tritt von irgendwelchen Biaggis, Gastwirten und anderen Dunkelmännern verfolgt wähnt; und man begreift auch, daß der angeblich Verfolgte in Wahrheit selbst ein Verfolger ist, ein notorischer Schnüffler, der sich nicht scheut, die Post aus Biaggis Briefkasten zu nehmen und anderer Leute Hotelzimmer zu inspizieren. Man begreift dies zu schnell. Denn weitere Widersprüche bleiben aus: Fortan bewegt sich die Erzählung zäh auf der Schleimspur des Krimis der blinden Motive.

Es sei denn – nun ja, man läse den Text mit stoischer Geduld als Meta-Roman, als Parabel. In dieser Lesart ist der Held der Leser: als Interpret einer Wirklichkeit (des Romans), deren „Zeichen“ er zu dechiffrieren versucht, ohne zu erkennen, daß die „Zeichen“ gar keine Zeichen sind, sondern einfach nur Dinge, die für sich selbst stehen. Man spekuliert und spekuliert, aber es ist durchaus nichts dahinter. Bei Beckett hieß es einst: „Weh dem, der Symbole sieht!“ Toussaint lieferte – in dieser Lesart – ein Remake: Warten auf Biaggi.

Möglich. Aber, leider, auch „Warten auf Biaggi“ ist kein gelungenerer Text als „Der Köder“, denn nicht denkbare Interpretamente entscheiden über Wohl oder Wehe eines Textes, sondern vor allem dessen Vitalität. Sein Charme, sein Eros, womöglich sein Humor. Was Toussaints früheren Romanen Leben einhauchte, war nicht zuletzt ihre merkwürdige Erotik. Das beharrliche Umkreisen jenes seltsamen „grippalen Zustands“, den man Liebe nennt. Im „Köder“ kommt praktisch keine Frau vor. Dafür hat der Ich-Erzähler einen acht Monate alten, höchst schläfrigen Sohn (weiß der Himmel woher), den er entweder im Buggy in jenem trostlosen Kaff herumfährt oder aber – ziemlich unverantwortlich – im Hotelzimmer alleinläßt. Einmal gibt der Erzähler seinen Sohn im Supermarkt bei einer fremden Dame ab. Aber ein Küßchen will der Kleine der Dame denn doch nicht geben. „Aber sie ist doch ganz lieb, sagte ich zu ihm. Wie heißen Sie? Marie- Ange, sagte die Dame... Sie ist ganz lieb, die Marie-Ange, sagte ich zu meinem Sohn, willst du ihr nicht ein Küßchen geben? Schau nur, ich gebe der Marie-Ange ein Küßchen, sagte ich (und ich küßte die Dame, die etwas überrascht schien, auf die Wange).“ Da läßt er sich einmal blicken, der Toussaint, der Schelm, wie wir ihn lieben. Einmal, auf Seite 21. Wegen solcher Szenen werden wir Toussaint-Leser bleiben. Martin Krumbholz

Jean-Philippe Toussaint: „Der Köder“. Roman. Aus dem Französischen von Achim Russer. Suhrkamp Verlag, 140 Seiten, geb., 32DM