Um 30 Silberlinge das Vaterland verraten?

Helmut Kohl eröffnet die Aktenschlacht um die „Zweite Ostpolitik“ der SPD in den 80er Jahren  ■ Von Christian Semler

Berlin (taz) – Weit mehr, als es die wegwerfenden Bemerkungen Rudolf Scharpings vermuten lassen, ist die SPD von Kohls „historischer“ Wahlkampfoffensive zur Ostpolitik der Sozialdemokraten in den 80er Jahren betroffen. Der Bundeskanzler hatte am vergangenen Wochenende führende SPD- Politiker angeklagt, sie hätten „um tagespolitischer Vorteile willen die großartige Idee des ,einig Vaterland‘ verraten“. Unter anderem spielte der Bundeskanzler auf Bahrs im Auftrag des damaligen Kanzlerkandidaten Rau 1987 unternommene Ostberliner Mission an. In deren Verlauf war, von Honecker höchstpersönlich angeordnet, für die tamilischen Flüchtlinge der Transit nach Westberlin dichtgemacht worden. Als Gegenleistung hätten die SPD-Unterhändler versprochen, sich für drei der vier „Geraer Forderungen“ Honeckers von 1980 stark zu machen: für Fortschritte bei der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft („volle Respektierung“), für die Schließung der Verbrechens- registratur von Salzgitter und für die Festlegung der Elbgrenze in der Flußmitte.

„Absolut dummes Zeug“, replizierte der heutige Kanzlerkandidat im Fernsehen und fügte hinzu, bei den Vorwürfen handle es sich um eine „so miese, unanständige Verleumdung“, daß er sich wundere, wie der Bundeskanzler sich an ihrer Verbreitung beteiligen könne. Welche implizit positive Einschätzung Kohls wiederum nicht wenige Zuschauer verwunderte. Scharping charakterisierte das von der CDU verwandte SED-Archiv als „Quelle, nicht als Heiligtum, das auch keine Wahrheiten verkündet“. Die SPD werde nun ihrerseits eine Publikation der Protokolle und Aktenvermerke herausgeben, die SPD-Politiker nach Gesprächen mit SED-Oberen in den achtziger Jahren angefertigt hätten.

Die SPD hat's eilig, aber solide Historikerarbeit braucht gute Weile. Vor diesem Zwiespalt sieht sich der Zeitgeschichtler Heinrich Potthoff, seit einigen Jahren mit der Sichtung der Ost- wie der Westquellen zum deutsch-deutschen Verhältnis beschäftigt und jetzt mit der Erstellung der Dokumentation beauftragt. Ginge es nach ihm, so stünde am Ende seiner Bemühungen ein dickleibiger Korpus, der die unterschiedlichen Sichtweisen der Akteure synoptisch aufbereitet. Potthoff meint, die SPD solle sich lieber nicht auf die Wahlkampf-Preisfrage einlassen, wer in den 80er Jahren der bessere gute Deutsche gewesen sei. Schließlich seien die Verdienste der Ostpolitik unbestreitbar und das Etikett „Vaterlandsverräter“ habe definitiv ausgedient. Aber es geht nicht nach Potthoff.

Die nächsten Schritte der CDU- Aktenoffensive zu antizipieren fällt in der Tat nicht schwer. Dazu bedarf es keines beschwerlichen Gangs ins Archiv, sondern lediglich einer sorgfältigen Lektüre des sechsten, der „zweiten Ostpolitik“ der SPD gewidmeten Kapitels von Timothy Garton Ashs jüngstem Werk, „Im Namen Europas“. Ash hat die SED-Akten über Gespräche mit SPD-Führern ausgewertet und sie – soweit möglich – den entsprechenden Protokollen der SPDler gegenübergestellt. Die CDU-Strategen könnten über kleine Fische wie Karsten Voigt hinweggehen, der laut SED-Protokoll vorschlug, die 1988 nach der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration für zwei Jahre aus der DDR verbannten Bürgerrechtler zunächst wieder einreisen zu lassen, um sie dann „bei entsprechenden Aktivitäten wieder zu ergreifen und auszuweisen“. Auch Engholm und natürlich Bahr ließen sich glänzend ausbeuten, sind aber als Pensionäre ohne Wahlkampfbedeutung. Als nächstes Opfer eignet sich zweifellos am besten: Oskar Lafontaine. Ihn hat der SED-Abteilungsleiter Rettner im Zusammenhang mit der Ausweisung der Bürgerrechtler so zitiert: „Eine völlige Enthaltsamkeit bei kritikwürdigen Erscheinungen in der DDR könne er (Lafontaine, C. S.) aus innenpolitischen Gründen nicht üben. Allerdings müsse man in Zukunft sorgsamer abwägen, wann und wozu man das tut. Ein rechtzeitiger Hinweis aus Berlin könne dabei sehr hilfreich sein.“ Auf alle Fälle „herrsche (im Präsidium der SPD, C. S.) Einigkeit darüber, daß Sozialdemokraten bei ihrem Auftreten in der DDR alles vermeiden müßten, was eine Stärkung dieser (der oppositionellen, C. S.) Kräfte bedeute“.

Solche Zeugnisse prinzipienloser Anbiederei würden sich hervorragend als Hintergrund eignen, um Lafontaines wiederholt geäußerte Bereitschaft, über die Geraer Forderungen zu verhandeln, in greller Wahlkampf-Farbe zu malen. Das Manöver hat nur einen Haken: Über die „volle Respektierung“ der DDR-Pässe, über die Schließung von Salzgitter und die Elbgrenze hätten auch die CDU- Politiker verhandelt. Wie die CDU auch in ihrer großen Mehrheit für die absehbare Zukunft von der Existenz zweier deutscher Staaten ausging. Regierung wie Opposition waren bereit, daraus alle Konsequenzen unterhalb der vollen völkerrechtlichen Anerkennung (Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften) zu ziehen. Das „einig Vaterland“ war für die CDU zwar keine Feiertagsphrase, aber in der operativen Politik ohne Bedeutung.

Was der SPD allerdings – vollständig unabhängig vom Wahljahr 1994 – eine gründliche selbstkritische Reflexion ihrer „Ostpolitik“ in den 80er Jahren nicht ersparen wird. Deren Grundirrtum bestand in der Erwartung, eine Reform der realsozialistischen Gesellschaften werde sich nur „von oben“, das heißt durch die an der Macht befindlichen Eliten, erreichen lassen. Weshalb es gelte, sie zu stärken, paradoxerweise sogar auf Kosten der demokratischen Opposition. Das staats- und sicherheitsfixierte Denken der SPD-Führung hat sie daran gehindert, die gesellschaftliche Dynamik der 80er Jahre auch nur zu ahnen. Aber auf diesem Terrain wird die CDU keine Wahlkampfpunkte machen können. Höchstens die versprengten Aktivisten der ehemaligen blockübergreifenden Friedensbewegung. Aber die stehen Kohl nicht zur Verfügung.