Frost und Feuer überall

Chronik eines angekündigten Todes: In Derek Jarmans „Blau“ ist der Hauptdarsteller eine Farbe. Der Regisseur kommt zur Premiere seines Films, der diese Woche zunächst nur in Berlin startet, nach Deutschland  ■ Von Anke Westphal

74 Minuten lang bleibt die Leinwand blau. Eine monochrome Projektionsfläche für alle Arten innerer Bilder birgt die „most perfect expression“ – jenes klare Ultramarin, das der aidskranke Derek Jarman, Bühnenbildner, Autor, Maler und Regisseur, als Hommage an den französischen Maler Yves Klein gedacht hat. „Blue“, blau, das ist für Jarman nicht allein die Farbe des Aidsvirus. Blau, das ist auch Sehnsucht, die Ferne, die Nacht, der Himmel und die Gruft. Blau ist die Farbe der von den Tropfnadeln zerstochenen Venen ebenso wie die der Unendlichkeit. Blau, so sagt der gerade 52jährige Regisseur, ist letztendlich „eine offene Tür zur Seele, eine unbegrenzte Möglichkeit“. Vielleicht aber auch das Symbol einer metaphysischen Hoffnung, die selbst dann noch nicht sterben will, wenn das Sterben, so wie in diesem seltsam zärtlichen Film oder Nicht- Film, zum öffentlichen Vorgang gemacht wird.

„Nichts macht einen interessanter als die Ankündigung des eigenen Todes“, sagte Jarman, der 1986, ausgerechnet kurz vor Weihnachten, von der eigenen HIV-Infektion erfuhr. Er habe Weihnachten sowieso nie leiden können, war seine lapidare Reaktion darauf. Seit 1992 ist Derek Jarman, dessen Name nicht erst seit „Caravaggio“ wie kein anderer für eine neue britische Schwulenästhetik im Zeichen homophober Gesetzgebung (wie des berüchtigten „Clause 28“) firmiert, durch Nebenwirkungen von Aidsmedikamenten so gut wie erblindet. „Blue“ ist ein Film über die Krankheit Aids, ohne daß die als bloße Metapher mißbraucht wird; „Blue“ bleibt starrsinnig auf der Seite der Opfer, die ein Leben verlieren. „Blue“ ist auch ein Film über das Erblinden des Künstlers und, das macht den Film fast unerträglich schmerzhaft, die Kunst, langsam und bewußt sterben lernen zu müssen. Der Anblick von Sterbenden bleibt dabei wie jedes andere Bild ausgespart, denn „Blue“ ist ein „movie without images“, ein Hörfilm. Wer das Sterben und sich selbst als Sterbenden stilisiert, ist keineswegs frei von Stilfragen. Das monochrome „Blue“ verspricht „no boundaries or solutions“, die Auflösung schlechthin, „universal frost“ und „a poetry of fire“ gleichermaßen. Jarman betonte zwar, daß der Film kein Avantgarde-Experiment sei, die Zuschreibungen der Kritiker jedoch reklamierten ihn schon einseitig für sich. Auf der letztjährigen Biennale in Venedig gab es mehrminütige Standing ovations für den neuesten Wurf des todkranken Regisseurs. Das geradzu zynische Schlagwort vom „letzten Werk“, von der „künstlerischen Hinterlassenschaft“ macht die Runde, bevor Jarman überhaupt unter der Erde liegt.

Dabei soll „Blue“ eine Art Vakuum sein, das etwas sehr Schwieriges, nämlich das Alles und das Nichts verhandelt. „There is more than meets the eye“, schwebt wie der mentale Geist über 74 Minuten, in denen der leere Hintergrund der letzten Jarman-Filme, „Edward II“ und „Wittgenstein“, nun zum eigentlichen Hauptdarsteller gerät: eine Einladung zur intellektuellen Meditation, zugleich eine Medikation mit jener Trance, die die halluzinogene Wirkung der blauen Leinwand im Verbund mit den gelesenen Texten und betörend schönen minimalistischen Klängen zu „Walk Away From Illness“ auslöst. Auszüge aus den Krankenhaustagebüchern Jarmans, vornehmlich aus dem Jahr 1992, theoretische Texte von Yves Klein, Studien, Behandlungsmethoden und Auswirkungen der Krankheit, Reflexionen über den Krieg in Bosnien und die 47 Nebenwirkungen des Aidsmedikaments DHPG schlagen wie sanfte Wellen in die Vorstellung. Unendlich traurig und einsam, dieses Pathos der Reduktion auf das Sterben. Das Bild sei ein Gefängis der Seele, lautet eine Prämisse Jarmans zum „universal blue“.

„Ich habe keine Freunde, die nicht tot sind oder sterben. Wie ein blauer Rauhreif erwischt es sie. Bei der Arbeit, im Kino...“, erinnert sich der Autor in einer Szene. „Ich laufe im heulenden Sturm am Strand entlang / Ein weiteres Jahr vergeht im brüllenden Wasser / Ich höre die Stimmen toter Freunde / Liebe ist Leben, das ewig dauert...“ Die Flut visueller Eindrücke erwächst einzig aus Geräuschen, Worten, Prosa und Lyrik, Musik und konstanter Farbe, die in den jeweils eigenen und somit persönlichsten Film übersetzt werden müssen. „Blue“ ist vielleicht das, was man einen reinen Film nennen kann, befreit von vorgefertigter Bilderschwemme, eine Pose, die mehr als andere die private Anverwandlung erzwingt, es sei denn, man will ebenso selig wie unverständig einschlummern, verärgert über diesen „Kunstquatsch“. Eine komfortabel abrufbare bildliche Referenz wird jedenfalls nicht geliefert, wo die spirituelle Seite des Sterbens gleichermaßen als politische wie ästhetische, auch als ästhetisierte Erfahrung erscheint.

Jarman hat sich bereits in seinen Texten „Modern Nature“ (1990) und „At Your Own Risk“ (1992) offensiv zu Aids geäußert. Die „Vereinigung schwuler Nonnen“ in London hat ihn heiliggesprochen. Und der erste Rainer-Werner-Fassbinder-Preis wurde ihm 1993 für sein Werk verliehen. Alles kein Trost fürs Sterben. In „Blue“ gibt es eine Passage, in der Jarman erzählt, wie er in einem Schaufenster ein paar Schuhe sieht, die ihm gefallen. Er überlegt, ob er sie kaufen soll, aber als sein Blick auf seine eigenen, alten Schuhe fällt, entscheidet er sich anders: „Diese Schuhe dürften hinreichen, mich aus dem Leben zu tragen.“ „Blue“ ist „H.B. und allen wahren Liebenden“ gewidmet.

„Blue“, Großbritannien 1993, Regie: Derek Jarman, 35 mm, 74 Minuten, im englischen Original mit den Stimmen von John Quentin, Nigel Terry, Derek Jarman, Tilda Swinton.