Bewegung für neue Demokratie am Bosporus

■ Im Schatten des Krieges debattiert das Land über seine politische Zukunft

„Die Türkei verdient Besseres“, lautet der Titel eines im September 1993 in Istanbul veröffentlichten politischen Manifests. Die Unterzeichner des Manifestes – den Kern bildet eine Gruppe von namhaften türkischen Wissenschaftlern, Publizisten und Unternehmern – kommen aus verschiedenen politischen Lagern. Sie haben eine Bürgerinitiative namens „Bewegung für neue Demokratie“ ins Leben gerufen. Das in der politischen Ordnung der Türkei noch weitgehend gültige Links-rechts- Schema wird durch die heterogene Zusammensetzung dieser Gruppierung aufgebrochen, zu der bekannte Wissenschaftler wie Hüseyin Ergün und Asaf Savas Akat gehören, aber auch der Kolumnist der Tageszeitung Sabah, Mehmet Altan. Der eigentliche Mentor der Gruppe aber ist der 38jährige Cem Boyner, Ex-Präsident des Unternehmerverbandes.

Seit der Gründung der türkischen Republik spielte das Militär eine zentrale Rolle. Die Verteidigung des gesellschaftspolitischen Staus quo rief es immer wieder auf den Plan. Gerade in letzter Zeit ist sein Einfluß wieder gewachsen. Die bestehende Verfassung garantiert dem Militär ein Mitspracherecht bei allen Entscheidungen der Regierung, vor allem im Konflikt mit den Kurden. Die wichtige Rolle der Militärs in der türkischen Innenpolitik macht die Forderung nach einer zivilen Gesellschaft, mit einem gegenüber dem Staatsapparat gestärkten Bürger, zu einem Hauptanliegen der Erneuerer. Aber auch die Ent-Ideologisierung des Staates, die Etablierung eines pluralistischen Gesellschaftssystems, die Anerkennung der ethnischen und kulturellen Heterogenität der Türkei, eine aktivere Außenpolitik in der Region, ohne die engen Bindungen an die europäische Gemeinschaft abreißen zu lassen, stehen auf ihrem Programm.

Die Liberalisierung der türkischen Wirtschaft in den 80er Jahren hat enorme Produktivkräfte freigesetzt, die dem Land in den letzten Jahren einen spürbaren Aufschwung beschert haben. Inzwischen wird jedoch die Stabilität der Wirtschaft durch die Folgen des Krieges in den kurdisch bevölkerten Teilen des Landes für jedermann sichtbar gefährdet. Die Militärausgaben schnellten in die Höhe und trieben 1993 die Inflationsrate auf über 70 Prozent. Die Türkei ist von stabilen demokratischen Verhältnissen so weit entfernt wie seit dem Militärputsch 1980 nicht mehr. Die „Bewegung für neue Demokratie“ setzt in der Kurdenfrage nicht wie die derzeitige Regierung auf eine militärische, sondern auf eine politische Lösung durch Verhandlungen. Nicht eine mit Gewalt geschaffene Homogenität, sondern das Bekenntnis zu einer kreativen, das Land kulturell bereichernden und seiner Tradition entsprechenden Vielfalt soll das Selbstverständnis der Türkei ausmachen.

Die für die türkische Gesellschaft nicht minder wichtige Frage nach der Rolle der islamischen Religion soll nicht – wie die kemalistischen Hardliner es verlangen – mit verboten, sondern im freien Meinungsstreit, auf zivile Art geklärt werden. Auch wenn sich die „Bewegung für eine neue Demokratie“ zur laizistischen Gesellschaftsordnung bekennt, sucht sie doch ein weniger verkrampftes Verhältnis zur islamischen Tradition des Landes. Sie vertraut auf die bereits erfolgte Säkularisierung der türkischen Gesellschaft und darauf, daß ein moderater Islam mit der Moderne zu vereinbaren ist.

Welche Chancen kann die „Bewegung für eine neue Demokratie“ als Bürgerinitiative haben? Ist sie ein elitärer Debattierclub, eine Art think tank der Demokraten? Oder wird sie die Basis für eine liberale radikaldemokratische Partei bilden, die Chancen hat, auch Stimmen aus der politischen Mitte zu gewinnen, um die türkische Gesellschaft grundlegend zu modernisieren? Vieles deutet darauf hin, daß nach den Kommunalwahlen im März, aus der die jetzige Regierungskoalition geschwächt hervorgehen wird, die „Bewegung für neue Demokratie“ sich als Partei etabliert.

Zur Zeit reist Cem Boyner durchs Land, hält Vorträge und wirbt für die Bewegung, die, wie er sagt, bei der Bevölkerung auf erhebliches Interesse stößt. Auch über mangelnde Resonanz in den Medien kann er sich nicht beklagen. Boyner hebt hervor, daß auch Gespräche mit Abgeordneten aus verschiedenen etablierten Parteien geführt werden, um eine breite Basis für die Erneuerung der türkischen Republik herzustellen.

Noch aber haben in allen bedeutenden Parteien die Anhänger der bestehenden Ordnung die Oberhand. Noch verhindern die etablierten Parteien offene Grundsatzdebatten in den eigenen Reihen. Schon machen Dolchstoßlegenden die Runde, allzuschnell werden die Befürworter einer Erneuerung der türkischen Republik als „Verräter“ abgestempelt, die die territoriale Integrität der Türkei gefährden. Zafer Senoçak/Bülent Tulay