: Der Kemalismus ist tot
Immer mehr gesellschaftliche Gruppen in der Türkei distanzieren sich von der herrschenden kemalistischen Staatsideologie. Der Krieg in Kurdistan ist nicht populär ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Münir Ceylan, der Vorsitzende der Ölarbeitergewerkschaft Petrol-Is, wartet dieser Tage in der Gewerkschaftszentrale in Istanbul darauf, von der Polizei abgeführt zu werden. Ceylan, einer der populärsten türkischen Gewerkschaftsführer, ist vom Staatssicherheitsgericht in Istanbul zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Der Kassationshof hat die Strafe bestätigt. Es gibt kein Entkommen – der Vollzug steht an. Grund für die Verurteilung des Gewerkschafters ist ein Aufsatz, der im Juli 1991 in der Zeitschrift Yeni Ülke veröffentlicht wurde. Ceylan hatte darin die staatliche Kurdenpolitik scharf kritisiert. „Die Exekutionen ohne Gerichtsurteil, kollektive Festnahmen und das Verschwinden von Menschen in Südostanatolien sind Botschaften, daß uns schwere Tage bevorstehen.“ Er rief in dem Aufsatz zum Widerstand gegen das damals vom türkischen Parlament verabschiedete „Anti-Terror-Gesetz“ auf. Drei Jahre später erfährt er nun am eigenen Leib, wie das „Anti-Terror-Gesetz“ mißliebige Kritiker zum Schweigen bringt. Ceylan wird als „Terrorist“ 20 Monate eingesperrt werden. In der letzten Woche gab Ceylan seine vermutlich letzte Pressekonferenz vor seiner Inhaftierung. „Ich kann doch als Gewerkschafter nicht schweigen über daß, was um mich herum passiert“, sagte Ceylan, der es nicht versäumte, den inkriminierten Aufsatz vorzulesen. Rund 500 Personen, unter ihnen führende Gewerkschaftsfunktionäre, hatten sich zur Pressekonferenz eingefunden, die eine Art Widerstandsdemonstration der türkischen Gewerkschaftsbewegung war. Bayram Meral, Vorsitzender der größten Gewerkschaftsföderation, Türk-Is, warnte die Herrschenden: „Sie sollen sich mal zusammenreißen. Nur mit Unterdrückung kann kein Land regiert werden. Kurden gab es gestern, es gibt sie heute, und es wird sie übermorgen geben. Es führt zu überhaupt nichts, wenn ihren Forderungen mit Gewalt begegnet wird.“
Dr. Fikret Baskaya, Dozent an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Abant, erwartet das gleiche Schicksal wie dem Gewerkschaftsführer Ceylan. Auch er ist zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Auch seine Strafe wurde letztinstanzlich bestätigt. Wiederum war das „Anti-Terror-Gesetz“, das „separatistische Propaganda“ unter Strafe stellt, Grundlage für die Verurteilung. Baskaya hatte ein Buch mit dem Titel „Verwestlichung, Modernisierung und Entwicklung“ veröffentlicht, in dem er sich kritisch mit dem kemalistischen Postulat des homogenen Nationalstaats auseinandersetzt. Die Richter pickten sich einen Absatz aus dem Wissenschaftswerk raus und befanden, daß es sich um „separatistische Propaganda“ handelt. „Die Richter sagen, es darf nur veröffentlicht werden, was Staatsideologie ist. Hätte ich mich darauf eingelassen, wäre das Verrat an der Wissenschaft“, meint Baskaya.
Mehr als 50 Autoren sitzen im Knast
Gewerkschafter Ceylan und der Wirtschaftswissenschaftler Baskaya sind nur zwei von unzähligen Autoren, gegen die aufgrund des „Anti-Terror-Gesetzes“ prozessiert wird. Nach einer detaillierten Liste des Vereins für Menschenrechte, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, befinden sich bereits 54 Autoren, zumeist Journalisten im Gefängnis. „Sie wollen offensichtlich die ganze Türkei in ein Gefängnis verwandeln“ kommentiert der Vorsitzende des Vereins, Akin Birdal. Im Zuge des „Ausrottungsfeldzuges gegen die PKK“, den die türkischen Politiker angekündigt haben, fallen nicht nur Kräfte, die der PKK politisch nahestehen, der politischen Justiz zum Opfer. Während die türkischen Militärs in den kurdischen Regionen ohne Rücksicht auf Opfer in der kurdischen Zivilbevölkerung Dörfer in Brand stecken und ganze Landstriche evakuieren, gerät im Westen des Landes jeder Mann und jede Frau, die die staatliche Politik in Kurdistan kritisiert, in die Mühlen der politischen Justiz. In den siebzig Jahren seit Gründung der türkischen Republik durch Mustafa Kemal Atatürk war es stets die linke Intelligenz, die durch Polizei und Sondergerichte zum Schweigen gebracht wurde. Die sogenannten „Unabhängigkeitsgerichte“ in den zwanziger und dreißiger Jahren verurteilten nicht nur aufständische Kurdenführer zum Tode, sondern jagten auch Kommunisten in Istanbul, Izmir und Ankara. Die Repressionswelle in Kurdistan nach der Militärintervention 1971 und nach dem Putsch 1980 war begleitet von Staatsterror gegen Intellektuelle. Es gibt kaum einen namhaften türkischen Intellektuellen, der noch nie hinter Gittern saß. Die bürgerliche Klasse, das türkische Großkapital hat stets den Weg dafür geebnet, daß per Putsch das Parlament aufgelöst wurde und die Militärs mit Gewehren und Bajonetten für „Ruhe und Ordnung“ sorgten.
Das türkische Kapital schwenkt um
Noch Ende der 70er Jahre forderte der „Verband der Industriellen und Unternehmer“, TÜSIAD, dem die türkischen Großkonzerne angehören, indirekt die Militärs zum Putsch auf. Um in der Wirtschaft das „koreanische Wunder“ zu verwirklichen, ergriffen die türkischen Industriellen stets Partei für ein repressives, aber „stabiles politisches Regime“, kommentiert die neu erscheinende, liberale Wochenzeitung Pazar Postasi. Das ändert sich im Moment spürbar und wird selbst in öffentlichen Stellungnahmen deutlich. Die Pazar Postasi, stets voller Lobeshymnen auf die türkische Bourgeoisie, hat jetzt die Wende erkannt. Zitate des TÜSIAD-Vorsitzenden Halis Komili, in denen dieser Angriffe auf die Meinungs- und Informationsfreiheit verurteilt, werden aneinandergereiht. Das ergibt ganz ungewohnte Töne: „Starke Ökonomien gedeihen nur auf demokratischem Boden.“
Doch es ist nicht nur hohle Demokratie-Rhetorik, was aus dem Management verlautet. Die Kapitalisten beginnen, sich von der Kurdistan-Politik der Regierung, die auch der Grund für die Repression im Westen des Landes ist, zu distanzieren. Das führt zu ganz neuen Erfahrungen. Gegen einen der reichsten Männer der Türkei, Besim Tibuk, Vorstandsvorsitzender des größten türkischen Tourismuskonzerns Net Holding, ermittelt der Staatsanwalt wegen „separatistischer Propaganda“. Es versteht sich von selbst, daß Tibuk kein Freund der PKK ist. Er wies in einem Interview lediglich darauf hin, daß das staatliche Beharren auf einer militärischen Lösung des Kurdenproblems die Profite bedroht. Die Position ist verständlich. Der Mann kann wahrlich kein Interesse daran haben, daß in Istanbul und am Mittelmeer Bomben hochgehen. Mit seiner Meinung steht der Touristikunternehmer aber nicht alleine. Für die Manager der Großkonzerne, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und in der Hoffnung auf nahöstlichen Frieden Istanbul als Drehscheibe für den Handel und Export in den Kaukasus, nach Zentralasien und in den Orient anvisieren, ist der Krieg in Türkisch- Kurdistan, der zumal jährlich Milliarden an Steuergeldern verschlingt, nur lästig. Angesichts des Unvermögens der großen etablierten Parteien, sich in der Kurdistan- Politik von der Linie des Militärs zu lösen, entstehen jetzt neue bürgerliche, politische Formationen.
Zeit für neue politische Formationen
Typisch ist die „Bewegung für neue Demokratie“, ein politischer Diskussionszirkel, der auf dem Weg ist, sich zur politischen Partei zu formieren. Der ehemalige Chef des TÜSIAD, der Unternehmer Cem Boyner, und der Wirtschaftsprofessor Asaf Savas Akat, der vom Marxismus zum Liberalismus konvertierte, sind die führenden Persönlichkeiten der Bewegung. Wirtschaftspolitisch sind sie kaum von Neoliberalen in Europa zu unterscheiden: „Privatisierung“, „Senkung der Steuern“, „Zurückdrängen des Staates aus der Ökonomie“ sind die Stichworte. Doch diese Programmatik wird verbunden mit einer radikalen Kritik des Kemalismus, der Staatsideologie und der staatlichen Politik in Kurdistan. Die Forderung nach einer „zweiten Republik“ mit einem neuen gesellschaftspolitischen Konsens der sozialen Klassen und Ethnien wird laut. Die erste, die kemalistische Republik, die Militärs und Bürokraten regierten, sei zum Anachronismus geworden.
Der Unmut über die großen, etablierten Parteien wächst. Die Meinungsforschungsinstitute rechnen bei den Kommunalwahlen Ende März mit erdrutschartigen Verlusten für die konservative „Partei des rechten Weges“ und die „Sozialdemokratische Volkspartei“, die die Koalition unter Ministerpräsidentin Ciller stellen. Die islamischen Fundamentalisten der „Wohlfahrtspartei“ sind den Umfragen zufolge die Gewinner des Stimmenverlustes im bürgerlichen Lager. Die Stärkung der islamischen Fundamentalisten ist dabei nicht Ausdruck einer Islamisierung der Gesellschaft, sondern beruht darauf, daß die Fundamentalisten als Alternative zum herrschenden Regime und der etablierten Parteien gelten. Die Linke, die blutig nach dem Militärputsch 1980 niedergeschlagen wurde, ist noch immer bedeutungslos, ohne Anziehungskraft. Der Grund für die Entstehung bürgerlicher Dissidenten ist klar. Die Keimzelle für eine neue bürgerliche Partei außerhalb der kemalistischen Staatsideologie soll gelegt werden.
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