Als das Feuer kam

Bei Vertriebenen und Vertreibern in Burundi / Aus dem Blutvergießen der letzten Monate ist keine neue Ordnung entstanden / „Wir haben noch immer Angst“  ■ Von Bettina Gaus

Der Blick hinunter auf den Rweru-See im Nordosten Burundis schweift bis zum Horizont über üppig wuchernde Fruchtbarkeit. Hügel, dicht bepflanzt mit hohen Bananenstauden, dunkelgrünen Kaffeebäumen und einem Meer leuchtendgelb blühender Akazien, senken sich sanft ab in ein weites grünes Tal. Leichter Dunst liegt über dem Wasser. Die Landzunge am Horizont gehört schon zum nördlichen Nachbarland Ruanda.

Es ist ganz still. Nur die Vögel zwitschern. Der holprige Weg führt an kleinen Bauernhöfen vorbei. Aber hier wohnt niemand mehr. Manche der einfachen Backsteinhäuser sind bis auf die Grundmauern abgebrannt, von anderen wurden die Wellblechdächer gestohlen. Einige zerbrochene Kalebassen liegen herum. Keine Kühe oder Ziegen grasen auf dem Hügel. Vor einer Ruine kauert ein halbverhungerter Hund.

Diese Gegend ist zum Schauplatz blutiger Massaker geworden, wie sie sich nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen der Armee am 21. Oktober letzten Jahres in weiten Teilen Burundis ereignet haben. Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern kamen in dem ostafrikanischen Kleinstaat ums Leben. Mehr als eine halbe Million flüchtete in Nachbarländer. Rund 300.000 Vertriebene hausen in behelfsmäßigen Auffanglagern im Landesinneren. Jetzt im Februar ist die Zeit der Aussaat. Wenn die Bauern ihre Felder nicht bearbeiten, geht die nächste Ernte verloren.

Aber im Tal Nyagisozi unten am Rweru-See gibt es keine Anzeichen dafür, daß Flüchtlinge die Heimkehr wagen. In der Nähe einer zerstörten Schule und einer geplünderten Kirche steht ein Mann in Uniform: ein Soldat. Die beiden europäischen Missionare, mit denen ich reise, begrüßen ihn in der Landessprache. Während sie miteinander reden, kommen immer mehr Männer hinter Bäumen und aus Ruinen hervor.

Gut ein Dutzend stehen schließlich um das Auto herum: Militärs, ausgerüstet mit Gewehren und einer Handgranate, begleitet von jungen Männern mit Buschmesser, Pfeil und Bogen. Sie sprechen wenig und sehen uns lange nach. Sind wir hier auf eine der Terrorgruppen gestoßen, die noch immer große Gebiete des Landes unsicher machen?

Ganze Lastwagen voll Diebesgut sollen unter den Augen von Militärs nach Ruanda transportiert worden sein, haben Flüchtlinge erzählt. Die Rückfahrt hinauf auf den Hügel in das Gebiet der Gemeinde Busoni ist die Rückkehr in den bäuerlichen Alltag. Hier spielen Kinder, unser Auto ist schnell von einer Menschenmenge umringt. Auch hier waren die Familien geflüchtet, aber die ersten sind heimgekehrt. Große Plastikplanen, wie sie die UNO in Lagern jenseits der Grenze verteilt hat, müssen erst einmal als Dächer für die zerstörten Häuser herhalten. Viele Flüchtlinge stehen bei der Rückkehr vor dem Nichts. Ein Wellblechdach kostet mehr, als ein Kleinbauer in einem halben Jahr verdient.

Sicher fühlen sich die Bauern auch hier noch nicht. „Wir haben noch immer Angst vor der Armee“, sagt einer. „Die Soldaten sollten endlich nach Hause gehen.“ Ein anderer fügt hinzu: „Die Twa sind auch gefährlich mit ihre Pfeilen.“ Selbst beim Wasserholen fühlten sie sich bedroht. Erst vor wenigen Tagen sind einige Rückkehrer, drei Männer und ein Junge, bei der Feldarbeit ermordet worden.

Die Twa sind mit einem Anteil von etwa einem Prozent an der Bevölkerung die kleinste ethnische Gruppe Burundis. Sie haben seit Menschengedenken hier gelebt, lange bevor im 14. Jahrhundert die ackerbauenden Hutu und etwa hundert Jahre später das feudalistisch organisierte Hirtenvolk der Tutsi in die Region eingewandert sind.

Die Geschichte des ostafrikanischen Kleinstaates ist eine Geschichte ethnischer Diskriminierungen: Die nur etwa 14 Prozent Tutsi beherrschten die 85 Prozent Hutu im Lande – bis zur Unabhängigkeit 1962 wurden sie darin auch noch von den zunächst deutschen, später belgischen Kolonialherren unterstützt.

Die Twa wurden von den beiden anderen Volksgruppen unterdrückt. Bis heute haben auch nur wenige unter ihnen eine Schule besucht. Am Rande der Sümpfe fristen die meisten ein karges Dasein als Töpfer, ständig bedroht vom Siegeszug des Plastik. Im Chaos sehen manche Twa jetzt zum ersten Mal eine Chance, Beute zu machen. „Alles, was jetzt passiert ist, ist die Frucht dessen, was die Burundier seit drei oder sogar vier Jahrhunderten in ihren Herzen getragen haben“, meint der Katechet Deo Claude Nshimirimana aus Busoni. „Irgendwann ist das Faß voll – und schließlich läuft es über.“

In der Vergangenheit waren vor allem Hutu Opfer von Massakern geworden. Mehrfach seit der Unabhängigkeit hatte die von Tutsi dominierte Armee Aufstände blutig niedergeschlagen und Hunderttausende Hutu getötet. Mit Melchior Ndadaye war im Juni 1993 bei demokratischen Wahlen erstmals ein Hutu an die Spitze des Staates gelangt. Vier Monate später kam er bei einem Putschversuch ums Leben. Die Hutu-Landbevölkerung reagierte auf die Nachricht schnell und vielerorts grausam. So wurden in mehreren Schulen Tutsi-Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt. Rasch und professionell errichtete Straßenbarrikaden legen die Vermutung nahe, daß paramilitärische Gruppen auf einen Putschversuch vorbereitet waren und sich am Widerstand gegen die Armee beteiligten.

Jeder Mord ließ die Gewalt eskalieren: Bauern massakrierten Familien von Soldaten – Armeeeinheiten, die sich zunächst nicht am Putsch beteiligt hatten, nahmen daraufhin blutige Rache. Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff der jeweils anderen Seite lösten „Präventivschläge“ auch in Gegenden aus, die noch Wochen nach dem Putschversuch von Unruhen verschont geblieben waren. Niemand weiß bis heute, in welcher Bevölkerungsgruppe die Zahl der Opfer am höchsten war. Aber es steht fest: Erstmals seit der Unabhängigkeit haben auch Tausende von Tutsi durch Gewalt ihr Leben verloren. Manche Tutsi sehen in den Ereignissen den Beginn eines Genozids: Die Hutu wollten sie ausrotten, „wie Hitler einst die Juden“.

Als bewiesene Tatsache wird in der Hauptstadt Bujumbura verbreitet, daß Kabinettsmitglieder in Radiosendungen vom Exil aus die Hutu mit einem geheimen Code zum Völkermord an den Tutsi aufgefordert hätten – ein Vorwurf, den Jerome Ndiho, Sprecher der Regierungspartei Frodebu, für lächerlich hält: „Man kann ein Geheimnis nicht mit sechs Millionen Leuten teilen.“

Aber mit Logik läßt sich die Angst nicht besiegen. Die demokratischen Wahlen hatten der Bevölkerungsmehrheit zu ihren politischen Rechten verholfen. Der Schutz der vormals herrschenden Minderheit aber war in der neuen politischen Landschaft zunächst kein Thema.

„Die Burundier halten Demokratie für einen Weg, um an die Macht zu kommen – und sie zu behalten“, sagt der parteilose Verteidigungsminister Charles Ntakije. „Um sie behalten zu können, werden Seilschaften aufgebaut. Das können regionale oder ethnische Seilschaften sein. Und das ist falsch verstandene Demokratie.“

Seltsamer Widerspruch: Gemordet wurde entlang der ethnischen Linien – aber in der Frodebu wie auch in der früheren Einheits- und jetzigen Oppositionspartei Uprona gibt es sowohl Hutu als auch Tutsi. Wie lassen sich die beiden Bevölkerungsgruppen heute überhaupt noch definieren?

„Man hat mir gesagt, daß ich Tutsi bin, aber ich weiß nicht, was das heißt“, meint der burundische UNO-Mitarbeiter Francois Kabura. „Wir sprechen dieselbe Sprache, wir haben die gleiche Physiognomie, dieselbe Kultur. Es gibt keinen Punkt, an dem sich ein Unterschied festmachen ließe.“

Mit seiner Ansicht steht Francois Kabura ziemlich allein da. Zwar haben Generationen von Mischehen den Begriff „Ethnie“ im Zusammenhang mit Hutu und Tutsi fragwürdig werden lassen, und die Bestimmung der Zugehörigkeit ist überhaupt nur noch möglich, weil allein die väterliche Linie die Abstammung bestimmt. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur jeweils eigenen Volksgruppe aber beherrscht nach wie vor das Leben der meisten Burundier.

„Der Unterschied zwischen Hutu und Tutsi?“ Die 28jährige Claudine, Sekretärin in Bujumbura, denkt lange nach: „Die Erziehung. Wir Tutsi waren immer die Chefs, die Hutu die Arbeiter.“ Ihre Freundin Kiki, eine Studentin, lacht spöttisch: „Die Hutu sind bei der Arbeit verbissener.“

„Das Problem ist, daß die Tutsi sich ganz einfach für etwas Besseres halten“, glaubt Emilienne Mimami, Staatssekretärin im Informationsministerium. Sie war ein Schulkind, als 1972 fast die gesamte Hutu-Elite vom Militär niedergemetzelt wurde: „Ich habe gesehen, wie meine Lehrer umgebracht worden sind.“ Dann fügt sie hinzu: „Die Armee stellt immer noch eine große Bedrohung dar. Ich traue ihr nicht.“

Das sieht Claudine ganz anders: „Man sieht doch, daß die Armee ruhig ist. Sie würde nicht noch so eine Dummheit begehen.“ Sie meint, die Bevölkerung müsse erst einmal ihr Vertrauen in die Autorität der Regierung wiederfinden: „Daran fehlt es.“

Vorläufig aber verfügt die Regierung gar nicht über die Mittel, um ihre Autorität wieder herzustellen. Die meisten Minister verschanzen sich nach wie vor in einem Ferienclub unweit der Hauptstadt, weil sie sich in Bujumbura selbst nicht sicher fühlen. Verteidigungsminister Ntakije, über dessen Haltung zum Putsch viele widersprüchliche Gerüchte im Umlauf sind, sagt zwar treuherzig: „Die Armee weiß, daß sie einen Fehler gemacht hat. Sie braucht jetzt das Vertrauen der Regierung.“ Aber er läßt gleichzeitig durchblicken, daß auch er mehrere Kabinettsmitglieder nach wie vor für gefährdet hält und ihnen nicht raten würde, den Club zu verlassen: „Man weiß nie, was ihnen passieren wird.“

Wer kontrolliert das Land: die Regierung oder das Militär? „Beide“, meint Frodebu-Sprecher Jerome Ndiho. „Wir haben die ideologische und legale Macht, die anderen haben die ökonomische und militärische Macht.“

Die Zeit ist günstig, um alte Rechnungen zu begleichen. In Busoni soll ein Großgrundbesitzer vom Volk der Tutsi jahrelang Hutu-Kleinbauern terrorisiert haben. Als die Nachricht vom Putsch kam, wurden er und seine Frau ermordet – der Beginn einer furchtbaren Kettenreaktion. Der Sohn der beiden Opfer, in der Umgebung als freundlich und umgänglich bekannt, schwor Rache: Zweihundert Hutu sollten als Sühne für den Tod seiner Eltern sterben. Er ließ seinem Schwur die Tat folgen, holte Freunde vom Militär auf den Hügel.

Aber die Angegriffenen ergaben sich nicht kampflos. In der Missionsstation von Murore, die zu Busoni gehört, leben seither Hunderte von Flüchtlingen, Hutu und Tutsi, auf engstem Raum. Epidemien wie Ruhr und andere fordern ständig neue Opfer.

Der Sohn selbst ist in ein Flüchtlingslager auf einem anderen Hügel entkommen. Von seinem Haus steht nur noch die blau angestrichene Wand seines einstigen Wohnzimmers.