In Ostasien löst der Hund am heutigen Neujahrstag den Hahn ab. Die ChinesInnen feiern eine ungewisse Zukunft. Trotz der Wirtschaftsreformen wird der Unmut in der Bevölkerung stärker. Chinas Führung sorgt sich. Aus Peking Ruth Bridge

China begrüßt das Jahr des Hundes

„Chaos ist möglich“, sagt der chinesische Dissident Wei Jingsheng, der im vergangenen Jahr nach fast 15jähriger Haft freigelassen wurde. „Viele kleinere Vorfälle gab es bereits. Du kannst 99 von 100 Funken unschädlich machen, aber wenn du den letzten nicht erwischst, zündet er, und es gibt einen Donnerschlag.“ Fünf Jahre nach den Protesten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens sind an dem Tag, an dem in China nach dem traditionellen Mondkalender das Jahr des Hundes beginnt, wieder viele der Faktoren sichtbar, die 1989 dazu führten, daß sich der aufgestaute Zorn der Bevölkerung in der Demokratiebewegung entlud. So ruft Ren Jianxin, Präsident des Obersten Volksgerichts, in der jüngsten Ausgabe des Parteiorgans Qiushi dazu auf, die bedrohte Stabilität des Landes zu schützen: Die steigende Kriminalität, der „Abspaltismus“ in den Regionen der ethnischen Minderheiten und der Einfluß der Religion zählen zu den Themen, an denen sich Konflikte und Unruhen entzünden könnten. Die Partei müsse, so Ren, in einer „angemessenen Art alle instabilen Faktoren loswerden, mit unerwarteten Vorfällen fertigwerden und darauf achten, die von den Massen als brennend empfundenen Fragen zu lösen.“

Als Millionen ChinesInnen im Jahre 1989 in allen großen Städten des Landes auf die Straße gingen, trieb sie vor allem der Zorn über die Inflation, die Korruption der Funktionäre und das Gefühl, daß diese Regierung sie weder repräsentierte noch auf sie hörte. Sie forderten mehr Selbstbestimmung in ihrem eigenen Leben, kurz: mehr Demokratie. Inzwischen entspricht die Inflationsrate wieder der von 1989, und auch die Korruption wird als schlimmer empfunden als jemals seit der Ära der nationalistischen Kuomintang-Regierung, die 1949 von den Kommunisten vertrieben wurde. Eine politische Reform, die die Regierung repräsentativer oder responsiver gemacht hätte, hat es nicht gegeben. Auch wenn der damalige KP- Führer Zhao Ziyang und Präsident Yang Shangkun die Bühne verlassen und Vizepremier Zhu Rongji und Parteichef Jiang Zemin sie betreten haben, sind im großen und ganzen immer noch dieselben an der Macht.

Wie Anfang 1989 bringen Oppositionelle wieder Petitionen, in denen Menschenrechtsverletzungen beklagt werden, in Umlauf. Der Kollaps des Kommunismus im ehemaligen sowjetischen Block hat den Dissidenten gezeigt, daß alles möglich ist. Dennoch gibt es substantielle Unterschiede zwischen heute und damals, die gegen eine Neuauflage organisierter Proteste sprechen. Wie es die Kommunistische Partei bezweckte, als sie die wirtschaftlichen Reformen 1992 durchsetzte, hat jetzt eine aufstrebende Mittelschicht ein starkes Interesse am Erhalt des Status quo.

Auch vielen der ehemaligen studentischen AktivistInnen von 1989 geht es jetzt wesentlich besser – außerdem lenkt sie das Geldverdienen von politischen Aktivitäten ab. Was aber die ChinesInnen am effektivsten vor Aufruhr zurückschrecken läßt, ist die Erinnerung an die Brutalität, mit der die Pekinger Regierung die Proteste damals niedergeschlagen hat. Das Schicksal der kommunistischen Führer in der ehemaligen Sowjetunion vor Augen, ist diese immer noch wild entschlossen, Unruhen im Keim zu ersticken.

Soweit balancieren sich die Anzeichen für und wider erneute Unruhen im Land aus. Was hinzukommt, ist allerdings die Unzufriedenheit der städtischen Arbeiterschaft, die mit dem Erfolg der Wirtschaftsreformen gewachsen ist: Als Folge der Unternehmensreformen wurden 17 Millionen ArbeiterInnen aus Staatsbetrieben „versetzt“ oder überflüssig gemacht, berichtete Anfang vergangenen Jahres die China Daily. Die Entlassungen beginnen zu schmerzen. Die südchinesische Yangcheng Wanbao wußte am 26. Januar zu berichten, daß in den ersten zehn Monaten vergangenen Jahres an die 700.000 Personen Arbeitslosenunterstützung beantragten – das waren mehr, als in den vergangenen sieben Jahren zusammen.

Nur ein winziger Teil von ihnen hat Anspruch auf Stütze. Die meisten werden nicht als arbeitslos, sondern als „auf Arbeit wartend“ geführt. Allerdings sei das Arbeitsministerium nun bereit, so schrieb die Zeitung, den Begriff „auf Arbeit wartend“ zu streichen und zuzugeben, daß diese Leute tatsächlich arbeitslos seien. Im übrigen soll ein umfassenderes System der sozialen Sicherung geschaffen werden. Gegenwärtig sind die Betriebe, die Arbeitskräfte entlassen, für ihre Entschädigung zuständig. Wenn diese Unternehmen zu den geschätzten 60 Prozent der staatlichen Firmen gehören, die Verluste schreiben, dann können die Arbeitskräfte wenig oder überhaupt kein Geld erwarten.

Jiang Zilong, ein anerkannter Schriftsteller und langjähriger Kenner der chinesischen Industriewelt, recherchierte im vergangenen Jahr in 14 Unternehmen der ostchinesischen Industriestadt Tianjin, die alle in den roten Zahlen steckten. Dabei entdeckte er, daß sie ihren 9.413 Arbeitskräften insgesamt 7.570.000 Yuan schuldeten. Diese Summe schloß Renten, Löhne und medizinische Ausgaben ein. Wie Jiang schreibt, leben allein in Tianjin Zehntausende unterhalb der Armutsgrenze. Er habe alte Ehepaare getroffen, die von 20 Yuan im Monat leben müssen. Sie können nur einmal am Tag essen.

In den chinesischen Medien hat es kaum Diskussionen über solche Probleme gegeben, aber Jiang ist nicht der einzige, der derartige Beobachtungen macht. Auch Wei Jingsheng ist der Meinung, daß die ArbeiterInnen unzufrieden sind. Aber die Dinge stünden noch nicht so schlecht, daß sie zu Unruhen führen könnten. „Es reicht nicht, unzufrieden zu sein. Es muß einen bestimmten Punkt erreichen. Im Moment, zumindest in Peking, können die meisten Leute noch damit leben... In vielen Orten können die Leute es nicht mehr. Es gibt alle Arten von oppositionellen Aktivitäten. Einige sind organisiert, andere sind legal, einige nicht. Die Leute stehlen aus ihren Fabriken, sie müssen ja leben... Sie bedrohen die Manager, zerschlagen Fabrikausrüstung, streiken. Die Manager wagen es nicht, jemanden verhaften zu lassen, weil sie Angst davor haben, daß sich die Unruhe ausbreiten könnte.“

„Vom Staat nehmen ist nicht stehlen“

Am 2. Februar beschrieb die Rechtszeitung sechs Beispiele von Arbeitern, die aus staatlichen Unternehmen gestohlen hatten. Die Arbeiter hätten gesagt: „Vom Staat nehmen ist nicht stehlen“, hieß es. Viele der Betriebe, in denen gestohlen wurde, gehörten zu jenen, die ihren ArbeiterInnen die niedrigsten Löhne zahlten.

Die Unzufriedenheit in Arbeiter- und Bauernschaft drückt sich allerdings eher in Ungehorsam und spontanen Protesten aus als in einer organisierten Bewegung wie 1989. Und die meisten der intellektuellen Dissidenten und Demokratie-BefürworterInnen haben mit ArbeiterInnen wenig am Hut. Wenn es also Instabilität im Jahre 1994 geben sollte, dann in Form von Streiks, gewalttätigen Protesten in Fabriken und von Aufruhr auf dem Lande.

Mit Sorge blicken viele auch auf einen weiteren Faktor für mögliche Instabilität: Das hohe Alter der grauen Eminenz Deng Xiaoping. Er wird in diesem Jahr 90. Wird es nach seinem Tod zu einem Machtkampf in der Führung kommen? „Unruhe wird es nur geben“, sagt der Dissident Wei Jingsheng, „wenn es eine Spaltung in der Führung gibt.“ Die ist jedoch im Moment nicht erkennbar.

Wenn auch ein jüngst auf der ersten Seite der Volkszeitung veröffentlichter Leitartikel andeutete, daß nicht alles zum besten steht: „Es gibt einige Genossen“, wurde dort gewarnt, „deren Verständnis für die Notwendigkeit der Stärkung der ideologischen Propaganda für den sozialistischen Aufbau nicht gut genug ist. Das Problem ,Eine Hand ist relativ stark, die andere relativ schwach‘ existiert auf unterschiedlichsten Ebenen.“ 1989 hatte man den gefeuerten Parteichef Zhao Ziyang eben solcher Schwäche geziehen. Damit habe er die Partei gespalten, hieß es damals.