Wie es weitergeht

Der Schmerz der Überlebenden: Peter Weirs Wettbewerbsbeitrag „Fearless – Jenseits der Angst“ beginnt dort, wo Katastrophenfilme abbrechen  ■ Von Jörg Lau

Der große Knall wird dich taub machen, der Blitz wird dich blenden, die Explosion wird dich und dein Raumschiff in Weltraumstaub verwandeln, das Flugzeug wird zerschellen – das sind die Drohungen, unter deren Druck sich das panische Personal in den Katastrophenfilmen bewegte. Peter Weir hat jetzt einen Film gemacht, der dort weitergeht, wo diese Filme endeten: Die Katastrophe ist bereits geschehen, die Überlebenden finden sich zusammen, die Toten werden gezählt, Rettungsmannschaften sind mit Bergungsarbeiten beschäftigt. War die Obsession des Katastrophenfilms der siebziger Jahre die apokalyptische Angstlust angesichts der Vorboten der Vernichtung, so führt uns Weir nun darüber hinaus, in den Raum „Jenseits der Angst“. Die Katastrophenfilm-Welle war ein Parasit des Gefühls, daß es „so nicht weitergehen“ könne. Was aber, fragt Peter Weir, wenn das Schlimmste geschieht und es doch weitergeht?

Es liegt auf der Hand, daß man diese Konstruktion schon bald sozialpsychologisch auslegen wird; Weirs Film braucht solche Operationen nicht zu scheuen, seine Schichten sind dicht genug, um härtesten hermeneutischen Tiefenbohrungen standzuhalten.

Was also, wenn es weitergeht? Max Klein (Jeff Bridges) überlebt den Absturz einer Linienmaschine. Man sieht ihn zu Beginn mit gefaßter Miene durch ein Maisfeld stapfen, und wäre da nicht sein ramponierter Straßenanzug, so könnte man glauben, sich in einen Kriegsfilm verirrt zu haben: Man hört Explosionen, Schreie, Brandgeräusche. Er trägt wie der Hl. Christophorus ein Kind auf dem Arm — nicht das einzige Mal, daß Weir für seinen Film die christliche Mythologie plündert. Ungerührt, als befände er sich in einer anderen Welt, schreitet der Held durch die chaotische Szenerie des Unglücksortes, um das gerettete Kind seiner Mutter zuzustellen. Dann macht er sich davon, während die Retter noch schuften.

Bald wird deutlich: Max Klein ist tatsächlich nicht von dieser Welt. Wir sehen ihn in einem Motelbadezimmer nackt vor dem Spiegel stehen, er hat sich gerade die Spuren des Unfalls abgewaschen. Er betrachtet sich – langsam, immer noch abwesend –, dann hebt er einen Arm, und es kommt eine schwere Schramme in der Herzgegend zum Vorschein. Sie erinnert in Gestalt und Position fatal an jene Wunde, die wir von Darstellungen des Gekreuzigten kennen. Max legt denn auch wie der ungläubige Thomas seine Finger auf diese Wunde und sagt zu seinem Spiegelbild: „You're not dead.“ Zur Beruhigung der Agnostiker unter Peter Weirs Freunden: Dies ist kein religiöser Film. Sein Thema, das Überleben, zieht aber religiöse Bilder und Mythen an. Weir hat sich entschlossen, lieber offensiv von ihnen Gebrauch zu machen, als sich von ihnen einholen zu lassen.

Elias Canetti hat die Figur des „Überlebenden“ in seinem großen Essay „Masse und Macht“ analysiert; was mit Peter Weirs Max Klein vorgeht, läßt sich nicht besser als mit Canettis Worten beschreiben: „Der Leib des Menschen ist nackt und anfällig; in seiner Weichheit jedem Zugriff ausgesetzt. Was er sich von allen Sicherungen am meisten wünscht, ist ein Gefühl der Unverletzlichkeit.“ Max Klein, dem Architekten, fällt dieses ersehnte Gefühl zu; er ist ein Überlebender und er erfährt, daß „der Augenblick des Überlebens der Augenblick der Macht ist. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. Es ist so, als wäre ein Kampf vorausgegangen und man hätte den Toten selbst gefällt.“ Das Problematische dieses Machtgefühls bekommt auch unser Held bald zu spüren. Die Genugtuung des Überlebens wird zur Sucht: „Es gibt keinen Augenblick, der mehr nach seiner Wiederholung ruft.“

Max Klein wird von einem Überlebensrausch erfaßt. Erst sehen wir den Allergiker, der, wie wir hören, als Kind fast an dem Genuß von Erdbeeren gestorben ist, eine ganze Schale der verbotenen Früchte verschlingen. Dann weist er das Zugticket, das ihm die Fluggesellschaft für die Heimkehr anbietet, zurück und verlangt einen Flug – zum Erstaunen der besorgten Betreuerin, die sich mit der Psychologie von Unfallopfern auszukennen glaubte. Dann geht er mit geschlossenen Augen, zur besten Verkehrszeit, über eine mehrspurige Straße. Dann klettert er auf ein Hochhaus und baut sich wie ein Monument der Angstlosigkeit auf einer Ecke des Dachfirstes auf. Max Klein, unverwundbarer Superheld.

So weit, so gut. Bis hierhin könnte die Psychologie des Helden auch in jedem besseren Kriegsfilm entfaltet werden. Nun bringt Peter Weir aber ein weiteres Thema hinein. Der Held bezahlt das Privileg des Überlebens mit einem recht hohen Preis. Er fällt aus der Menschenwelt nämlich in eben dem Moment heraus, in dem sich seine Größenphantasien erfüllen und alle Angst von ihm abfällt. Er kann nicht mehr zurück in das bürgerliche Leben eines wohlhabenden Architekten, er findet auch nicht mehr zurück zu seiner schönen, intelligenten Frau Laura (Isabella Rosselini). Nicht daß er sein früheres Leben gehaßt hat, nicht daß er Laura nicht mehr liebt – aber Max, der Auserwählte, ist ein sozialer Zombie. Er lebt gewissermaßen in einem Zwischenreich, in einer Welt, aus der man wie durch Milchglasscheiben in die parallelen Welten der Lebenden und der Toten schaut. Seine verrückten Mutproben erinnern denn auch an die Bewegungen einer Fliege, die immer wieder gegen die Scheibe rast, um nach draußen zu gelangen. Erst als er eine andere lebend Tote trifft – Carla (Rosie Perez), die bei dem Absturz ihr Kind verloren hat – ist an ein Entkommen zu denken. Am Ende gelingt auch dies, wieder zu einem hohen Preis und nur auf Umwegen, denn Max muß erst Carla retten, damit diese ihn retten kann. Seine Frau in der Normalmenschenwelt mißversteht dies als Liebe. Man kann es ihr nachsehen, denn die Sache sieht auch so ähnlich aus und steht unter dem Gesetz des Gabentauschs – aber wie könnten Zombies denn lieben.

Peter Weirs Film erzählt auf eine sehr soghafte Weise von der ontologischen Unsicherheit dieses Zwischenreichs, von dem, wie man weiß, schon die Menschen aller Zeiten phantasiert haben, bis die Menschen der Moderne sich dazu die Zombiekunst des Films erfanden. „Fearless“ ist also, wenn er von der Macht und den Schrecken dieses Zwischenreiches handelt, ganz nebenbei auch ein Film über den Film. Aber wirklich, und das ist wichtig, nur ganz nebenbei.

Peter Weir: „Fearless", USA 1993, 122 Min.

12.2. Zoopalast 14h und Urania 21h;

13.2. International 20h