Mondsüchtig

Fin de siècle im häuslichen Obstgarten oder „Ich bin verrückt, und das macht mich so besonders“: Kristin Hersh hält es auf ihrem Solodebüt ein wenig mit der Künstlerpsychose  ■ Von Anke Westphal

Das Londoner Kultlabel 4AD hat seinen HörerInnen schon einiges an schönem Eklektizismus geschenkt. Wie eiskalt ist dies Händchen, wie seltsam unweltlich der Töne Klang, möchte man phantasieren. Droppen wir der Einfachheit halber ein paar Namen: Dead Can Dance, Cocteau Twins, This Mortal Coil, Heidi Berry. Oder – die Throwing Muses aus Boston.

Ungefähr seit Mitte der Achtziger waren sie, als rituell verehrtes, dabei delphisch verklausuliertes „Gitarrengetwangel“ (so hieß es amtlicherseits), in den Sammlungen ihrer Anhänger präsent, von denen nicht selten mißverstanden, weil synonym gesetzt mit suizidaler Seelenpein und romantischem Selbstmitleid. Das bekümmerte die beiden Halbschwestern und Muses der ersten Stunde, Tanya Donelly (heute bei der Band Belly) und Kristin Hersh, nicht wenig. Der Name Throwing Muses geht übrigens auf eine Passage im Werk des Phänomenologen Martin Heidegger zurück. Die Throwing Muses also als instrumentales Medium, auf dem das Sein, wie immer man es definieren mag, doch seine Matrix von der Erwartung des Todes spielt? Kristin Hersh, Gründerin und Sängerin der Muses, wollte jedenfalls noch 1991 keineswegs über zwei Dinge sprechen: Selbstmord und Poesie.

Und jetzt das. Die 27jährige Hersh ist eine Frau mit Doppelbelastung (sie hat zwei kleine Söhne), rigider Arbeitsmoral, offenbar puritanischer Ethik und überzeugt davon, „daß das Hausfrauendasein eine Aufgabe ist, die jeder wenigstens eine gewisse Zeit lang machen sollte – es gibt einem eine gehörige Portion Bescheidenheit auf den Weg“. Zwischen Kunst und wirklichem Leben besteht wohl immer noch ein gewissermaßen antagonistischer Widerspruch.

Die so robust sprechende Hersh schlägt sich mit ihrem just erschienenen akustischen Solo-Debüt „Hips & Makers“ gerade unverblümt auf die Seite der extrem fragilen 4AD-Fraktion. Die Spannen zwischen den einzelnen Muses-Alben, deren surreale Tradition Kristin Hersh mit ihren selbstreferentiellen Kreisgesängen allerdings eher paraphrasiert als bricht, waren ihr zu lang geworden, und ihre eigenen Songs, die sie „Kinder“ (!) nennt, mochte und konnte sie nicht mehr vor der Öffentlichkeit wegschließen. „Meine Songs schreiben sich von selbst, aber jetzt macht mich das glücklich statt verrückt“, so die singende Vollzeithausfrau und Musikerin. Mit dem gebotenen Mißtrauen hinein denn in die Abgründe der Hausfrauenbescheidenheit.

Denn Abgründe müssen es offenbar schon sein – da hilft aller strukturierende Alltag nichts. Kristin Hershs liebste Worte, zählt man die Texte aus, die ihr sowieso nicht viel mehr als Klang bedeuten sollen, scheinen „break“ und „break down“ zu sein. Romantik und Schwermut sind Begriffe, zu schwach, um liedgeborene Stimmungen zu beschreiben, deren Wirkung sich daraus kondensiert, daß akustischer Purismus mit präpsychotischen Visionen turtelt. Der Wahnsinn als Essential also – und doch etwas Heidegger (in der Light-Variante). Das wackere Leben ist immer einen Hauch zu weit entfernt von jenen seltsam schönen, gefühligen Orten der Songs von Kristin Hersh, und dieser Hauch ist berechnet wie die dezenten Cello-Einsätze Jane Scarpantonis im Hintergrund. Man ist von Geistern umkreist und fliegt zu Fenstern hinaus.

Zwischen uns ist nichts als Gnade, verkündet die Elfe Kristin in einer Szenerie, die gut und gern der unheimliche Holzdachboden aus ihrem Video zu „Your Ghost“ sein könnte. Überhaupt, dieses Video und der ganze Hype – was ist denn das, fragt man sich und entdeckt bei aller Blütenzartheit die Bestätigung eines uralten Modells. Das lautet: Ich bin verrückt, und das macht mich so besonders. Hilf mir auf, wenn du mich fallen hörst, aber es wird vermutlich nichts ändern, denn man übt sich sowieso im Sterben. Seit man anfing zu leben, übt man es. Fin de siècle im häuslichen Obstgarten, die Verzweiflung ist total, wo es sowieso immer regnet oder totenbleicher Schnee liegt: „You can't get anymore sunshine / you can't got anymore broken down“. Das Ich ist längst schon zerschellt in einer Überfülle klaustrophobischer und schizoider Träume. Und alle Mädchen weinen, auch wenn man nicht weiß, warum... Hersh allerdings versuchte schon vor zwei Jahren, solche möglichen Deutungen zu widerrufen: „Ich bin wirklich, wirklich gegen Verrücktheit.“

Dennoch: Sphärische Botschaften, flehende Bitten gibt uns Kristin Hersh in ihren Songs, die Seelen mit verführerischer Melancholie küssen und irgendwie nicht atmen können, mit auf den einsamsten aller Wege. Nur einmal artikuliert sich diese autistische Traurigkeit, die eher vorgeblich als vergeblich den Dialog mit der Stärke sucht, im Wunsch: „We should all be free.“

Peng, daneben, und: Haben wir es nicht gewußt? Beklopptheit ist nie konkret, sondern global ästhetisch. Kristin Hersh wuchs in einer Hippie-Kommune auf und lernte anhand von Wörtern lesen, die ihre unter Acid stehenden Lehrer an die Tafel schrieben. So will es die Legende, die hier Biographie genannt wird.

Hersh versteht ihre Musik als eine, die mit den Hörern nicht flirtet, sondern schläft. Wir haben keine Reise in eine smarte Affäre, sondern eine ins Alptraumbett angetreten. Konstruiert wurde dasselbe von jenem Lenny Kaye, der schon die Patti Smith Group produzierte. Dann singt Michael Stipe von R.E.M. auf „Your Ghost“ sehr schön ein „You were in my dreams“. Aber das sind Fakten, die unser wachgerütteltes mondsüchtiges Gemüt auch nicht mehr beruhigen können: Mad at nothing, Zerbrechlichkeit, die ihren Anlaß und die meisten Überlebensstrategien vergessen hat.

Wie ist es überhaupt möglich zu leben? Wir jedenfalls fangen an, Engel aufzulesen. Wir können keine Boxer heiraten, damit die uns vorm Kämpfen bewahren. Alles, was fehlt, ist tröstliche Ironie. Und Kristin, die hat uns einfach angelogen, wenn sie behauptet: „Finally it's alright“.

Kristin Hersh: „Hips And Makers“. 4AD/Rough Trade.