Eine Amerikanerin in Berlin

Ich stecke in einer Glaubenskrise. An einem einzigen Tage sind zwei meiner liebsten Überzeugungen ins Wanken geraten — nicht durch das Festival, sondern durch Deutschland selbst, auf das ich mich immer verlassen zu können glaubte. Früher erzählte ich immer, man könne einen Mikrochip nach Deutschland schicken, und er käme mit Sicherheit an. Deutschland war das einzige Land, in das ich unversicherte Pakete schickte. Dann geriet alles ins Rutschen. Vor zwei Jahren schickte ich Freunden in Hamburg ein Paket und es kam niemals an. Ich gab der US-Post die Schuld. Vor zwei Tagen stieg ich in New York in ein Flugzeug nach Berlin, und mein Gepäck kam nicht an. Diesmal kann ich nur den Deutschen die Schuld geben. Ich bin am Boden zerstört, nicht wegen meiner Socken (obwohl mir auch die am Herzen liegen), sondern wegen meines Glaubens an die deutsche Tüchtigkeit.

Die sogenante deutsche Präzision ist ein Vorurteil, erzählte mir ein deutscher Kollege und ritt pedantisch auf dem Unterschied zwischen Mythos und Realität herum. Genau. Gott stellt meinen Glauben an meine Vorurteile auf die Probe, und ER schlägt mich, wie ER einst Hiob schlug. (Leser meiner regelmäßigen Kolumne kennen meine Ansichten zum Geschlecht Gottes. Er muß ein Mann sein, denn keine Frau hätte alles so heillos durcheinandergebracht.) Ich hatte mich gerade von dem Gepäckschock erholt, als mir die nächste Heimsuchung zuteil wurde: eine Nichtraucher-Ecke im Presse-Cafe der Berlinale. Ich habe nie geraucht. Aus Mangel an Praxis kann ich noch nicht einmal Marihuana richtig inhalieren, genau wie mein Präsident. (Ich bin auch genau so wahrheitsliebend wie er.) Aber ich hatte mich darauf verlassen, daß in Berlins verräucherten Räumen seine ganze Dekadenz zutage träte. Diese sogenannte Dekadenz ist genauso ein Vorurteil wie die deutsche Tüchtigkeit, aber eins von der Art, wie sie Amerikaner seit einem Jahrhundert glücklich machen. Denn Amerikaner müssen jemanden haben, gegen den sie sich als frisch und sauber empfinden können. Und uns ist es egal, ob ihr euch dabei die Lungen verklebt. Oder die Arterien verstopft.

Am Frühstückstisch meines Hotels ist die Zahl der Obstesser deutlich in die Höhe gegangen. Einer der wichtigsten Gründe, warum ich nach Berlin komme, sind die Geschichten von Schnitzel und Bier um sieben Uhr morgens, damit meine Freunde, die Speck und Schnaps längst aufgegeben haben, sich toll fühlen können. Ich will einfach nichts davon hören, daß ein gesundes Leben mit viel Obst schon zu Eurer Volkstradition gehört hat, als Ihr noch durch den Schwarzwald gezogen seid, und mir gefällt auch nicht die Überraschung meiner Freunde, wenn ich mich nicht freue, daß sie mit dem Rauchen aufgehört haben. Mich schockiert die Vorstellung, daß ich mich darüber freuen soll. Daß wir von der Welt erwarten, sich für unsere Vorurteile zu opfern, ist schließlich amerikanische Tradition.

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Der Wettbewerb der Berlinale beschäftigt sich heute (welche Neuheit), mit der Männlichkeit. Der üppig bebilderte Film „Huo Hu“ von Wu Zi-niu berichtet von einem Filmvorführer, der aus Unzufriedenheit über den Popularitätsgewinn des Fernsehens gegenüber dem Kino in die Berge geht, um einen Rotfuchs zu jagen und sich so seiner Männlichkeit zu versichern. Er begegnet einem grobschlächtigen Bauern, der den Fuchs aus verständlicheren Gründen jagt — wegen der Abschußprämie. Zwischen Schnee und immergrünen Wäldern schlägt sich der Stadtfrack mit dem Bauern herum, befreundet sich mit ihm und wird schließlich von ihm gerettet, damit er in vollem Seelenfrieden in die Stadt zurückkehren kann. Aus Monologen der beiden Ehefrauen vor der Kamera erfahren wir, daß der Filmvorführer geschieden ist, während der Bauer sich der ungetrübten Achtung seiner Frau erfreut. Für mich heißt das: richtige Männer essen keine Quiche.

In Peter Weirs „Fearless“ überlebt ein Architekt (Jeff Bridges) einen Flugzeugabsturz und kommt zu dem Schluß, er sei unverletzbar. Er glaubt sich zu gut für ein normales Leben, wird unzufrieden mit Frau (Isabella Rossellini) und Kind, und so bleibt er ein Schnösel, bis er eine junge Frau (Rosie Perez, in den besten Szenen des Films) darüber hinwegtröstet, daß sie beim gleichen Flugzeugabsturz ihr Baby verloren hat. Lassen wir das eigenartige Detail beiseite, daß Männer anscheinend Flugzeugabstürze brauchen, um sich für Gott zu halten. Mein Fazit: Auch Quiche-Esser können richtige Männer sein.

Bei Redaktionsschluß war der letzte Film im heutigen Wettbewerbs-Programm noch nicht gelaufen, aber Fernando Rey spielt eine Hauptrolle — Quiche-backend mit Schürze wäre er ein Inbegriff des Machismo. Ich aber sage, Quiche verstopft die Arterien. Richtige Männer sollten sie essen und die Welt für eine Weile den Frauen überlassen. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning