■ Bevor die letzten Lichter endgültig verlöschen
: Zeigen,daß dieser Krieg alle angeht

Vielleicht sollte jemand, der – wenngleich nur für eine gewisse Zeit – im belagerten Sarajevo gelebt hat, sich nicht gerade in dem Augenblick zu Wort melden, wo die Entscheidungen über ein militärisches Eingreifen getroffen werden: Man stellt dann Überlegungen gerade so an, als wäre Sarajevo die eigene Stadt, die Leute dort die eigene Familie, der eigene Freundeskreis. Dazu noch all die Schuld- und Ohnmachtsgefühle derer, die „eigentlich“ sicher und weitab vom Schuß und in einer vergleichsweise stabilen Demokratie leben. Die Gefahr ist groß, daß man in Vergeltungsdenken verfällt, weil man meint, die Opfer zu kennen, ja vielleicht selbst zu ihnen zählen könnte und nur noch die Schuldigen bestraft, eliminiert, an jeder weiteren Aktion gehindert sehen möchte – und dabei übersieht, daß die Mittel, mit denen derlei geschehen müßte, zwangsweise neues Unheil, neues Leid, neue Ungerechtigkeiten bewirken würden und vielleicht am Ende keine Lösung bringen. Dennoch läßt sich auch der Wunsch, es möge endlich mal etwas Massives von außen her geschehen, nicht einfach als unausgegorenes dumpfes Rachegefühl abtun.

Kann man derart hin- und hergerissen überhaupt noch sinnvoll denken? Würden nicht ein paar „intelligente“ Bomben, wenige nur, auf die paar Mörser genügen, die da ein Massaker nach dem anderen anrichten? Hätte man sie nicht schon längst ausschalten können – seit ihre Granaten den Menschen hier und uns – mit unseren Panzerjacken vergleichsweise sicheren – Journalisten zum ersten Mal um die Ohren pfiffen und wir das erste wirkliche Menschenblut spritzen sahen? Für die Leute, die hier seit zwei Jahren wie in einem Käfig leben, macht es nur noch wenig Unterschied, ob bei der Explosion nur einer stirbt oder ein Dutzend oder fünf Dutzend – für viele ist es auch schon gleichgültig geworden, ob sie durch eine serbische Granate oder eine Nato-Bombe umkommen. Rein instinktmäßig möchte man die Intervention fordern, weil sie von den Menschen, die hier vegetieren, gefordert wird. Auch wenn viele von ihnen schon zu schwach sind, die Forderung überhaupt noch auszusprechen, oder weil sie alles Vertrauen verloren haben. In Sarajevo ist der einzige Kontakt, der bleibt, noch der direkte zwischen Menschen, die einander gegenüberstehen oder -sitzen oder -liegen. Alles außerhalb ist feindlich, unfähig zum Verständnis und zum Urteil, weil nicht hier erlebt, in der täglichen grauenhaften Gefahr.

Doch der Instinkt alleine reicht nicht aus. Dazu kommt, daß dieser Krieg nicht bloß Sarajevo ist: die malträtierte Stadt wird von allen instrumentalisiert und benutzt, zur Märtyrerin erklärt – von der UNO, die sie schützen, von der bosnischen Regierung, die sie verteidigen müßte zum Beispiel –, und das läßt leicht das Schicksal der anderen Gebiete vergessen: Auch im gesamten übrigen Ex-Jugoslawien finden sich zerrissene Grenzen und Fronten, an denen jederzeit erneut ein ganz ähnlicher oder noch schlimmerer Grabenkrieg beginnen kann. Bomben, mit denen man derlei von vornherein ausschalten kann, gibt es nicht; und intelligent, wie man uns weismacht, sind sie überdies auch nie.

Doch auch Nichtstun ist unmöglich. Und das nicht aus moralischem Pflichtgefühl heraus, sondern weil es hier in Sarajevo auch um uns geht, um unsere eigene Zukunft. Geht das multiethnische Bosnien unter – noch ist es nicht soweit, jedenfalls solange auch noch außerhalb Sarajevos Menschen an die Idee glauben, so wie sie es hier trotz der Granaten tun –, verschwindet auch für uns alle Hoffnung auf die Fähigkeit der Demokratie, derlei Zusammenleben zu regeln. Den unzähligen Demokraten Bosniens – deren Repräsentant ganz sicher nicht Alija Izetbegović ist – wird die Stimme erst wiederkehren, wenn die Waffen schweigen.

Zu vergleichen ist die faschistische Aggression aus Bosnien allenfalls mit dem spanischen Bürgerkrieg der dreißiger Jahre; damals waren es die internationalen Brigaden, die dazwischenzutreten versuchten, heute könnten es die Blauhelme sein, wenn ihre Stärke auf mindestens 50.000 angehoben wird und sie Tätigkeiten als Schlichter, als Helfer des Wiederaufbaus, bei der Herstellung eines Minimums an gesichertem Alltagsleben durchführen. Eine Streitmacht, die sich nicht ständig als über den Parteien stehend erklärt und aus allem heraushält, sondern die Kompetenz und Ausrüstung zur Entwaffung aller bekommt, die ihre Kanonen einsetzen (Kroaten in Mostar, Serben in Tuzla und in Sarajevo, aber auch ihre Feinde, wenn diese nach der Entwaffnung der Gegner noch zurückschlagen wollen). Sie müßten phasenweise regelrecht als Auffangmauer zwischen den Kanonen und der Bevölkerung fungieren.

Das freilich könnte auch, wir wissen es aus dem Blauhelm- Einsatz in Somalia, der Beginn eines verlustreichen Krieges auf dem Erdboden und nicht nur ein Luftspaziergang wie einst über dem Irak sein. Doch ein Signal der äußeren Mobilisierung, das nicht wie bisher unverbindlich und steril bleibt, könnte aus der Feuerleitstelle eine Jagdbombers aus wesentlich effizienter gegeben werden als viele Erklärungen. Vielleicht wäre es auch ein Signal für uns selbst, daß dieser Krieg uns alle angeht – so sehr wir uns bemühen, ihn zu begrenzen und zu ersticken. Die letzte Möglichkeit vielleicht noch, bevor die Lichter alle von selbst ausgehen. Raffaella Menichini

Die Autorin ist Leiterin des Auslandsressorts von „il manifesto“ und hat diverse Male direkt aus dem belagerten Sarajevo berichtet.