: Feind vorhanden, aber nicht in Sicht
In Frankreich verdrängen nicht nur Alltagssorgen das Gemetzel in Bosnien ■ Aus Paris Dorothea Hahn
„Ist hier jemand, der heute abend schon an Bosnien gedacht hat?“ Der junge Fischer hat sich Mut angetrunken, um seine Frage herauszuschreien. Jetzt steht er mit weit ausgebreiteten Armen in der verräucherten bretonischen Bar. Alle Gespräche sind zum Erliegen gekommen, niemand wagt mehr, sein Glas anzurühren. Von seinem Platz hinter der Theke wirft der Wirt vorwurfsvolle Blicke zum Tisch der Fischer, die sich an diesem Tag stundenlange Straßenschlachten mit der Polizei geliefert haben und die hier ihre Kampferfahrungen austauschen wollen. Ein paar Freunde zerren den aufgebrachten jungen Mann auf den Stuhl zurück.
Die Anklage am Tag des Massakers auf dem Markt von Sarajevo traf ins Schwarze. In den vergangenen Monaten haben die Franzosen das Thema Bosnien zunehmend aus ihrem Alltag verdrängt. Zum letzten Mal war es in vieler Munde gewesen, als im Januar der französische General Jean Cot mit dem UNO-Generalsekretär in Streit geriet, an dessen Ende der Diplomat den Militär feuerte. Cot hatte mit deutlichen Worten die Erniedrigungen beschrieben, die seine 25.000 Blauhelme täglich in dem Krieg in Ex-Jugoslawien erleben und ein weitergehendes Mandat für das Militär gefordert. Daheim in Paris erhielt er Schützenhilfe von Mitgliedern der konservativen Regierungsparteien. Ex-Präsident Valéry Giscard d'Estaing forderte den Abzug der Blauhelme und Vergeltungsschläge aus der Luft. Auch Verteidigungsminister François Léotard kündigte an, daß er seine Blauhelme nicht „bis zum Absurden“ in Ex-Jugoslawien lassen werde. Im Frühling, wenn das gegenwärtige UNO-Mandat ablaufe, müßten neue Bedingungen ausgehandelt werden. Und selbst der populärste Mann Frankreichs, der Armenpriester Abbé Pierre, fragte an, ob die internationale Gemeinschaft, nachdem sie „zwanzig Mal gesagt hat, hört auf“ nicht endlich einmal drohen sollte: „Hört auf, sonst schlagen wir los.“
Doch wenige Tage, nachdem die Diskussion über Für und Wider eines Nato-Einsatzes in Ex-Jugoslawien begonnen hatte, verstummte sie auch schon wieder. Die Krisensorgen der Franzosen traten erneut in den Vordergrund. Die steigende Arbeitslosigkeit, der harte Konkurrenzkampf auf dem internationalen Markt, die Angst der Fischer vor ihrem Untergang. Nur ein kleiner Kreis von Intellektuellen um den „neuen Philosophen“ Bernard Henri-Lévy und der frühere Minister für humanitäre Fragen, Bernard Kouchner, diskutierten weiter über Sarajevo. Doch auch sie stehen nicht mehr im Rampenlicht wie noch vor einigen Monaten. Vielen Franzosen ist ihr Engagement suspekt – sie vermuten individuelle Karriereabsichten oder eine „antiserbische Kampagne“, und das geht natürlich traditionellen Serbenfreunden gegen den Strich, so sehr sie sich auch über die schrecklichen Bilder aus Sarajevo entsetzen.
Frankreich hat 6.000 Berufssoldaten als Blauhelme in Ex-Jugoslawien – mehr als irgend ein anderes Land. In Paris und in zahlreichen Provinzstädten tummeln sich über 200 „Vukovar“- und „Sarajevo-Komitees“, die Geld, Kleider und Medikamente für Kriegsopfer sammeln – ebenfalls mehr als sonstwo. Ein Hilfsplakat für Sarajevo trägt die rot-weißen Schriftzüge, die Anfang der achtziger Jahre die Kampagne für die polnische Gewerkschaft „Solidarność“ prägten – eine Erinnerung auch an eine der ganz großen Kampagnen der jüngeren französischen Geschichte. Wenn die Hilfsorganisation „Médecins sans Frontières“ Spendenaufrufe für Bosnien macht, kommen regelmäßig zweistellige Millionensummen zusammen – sehr viel mehr, als wenn es um Somalia oder Burundi geht.
Am Tag nach dem jüngsten Massaker in Sarajevo kamen in Paris ein paar hundert Menschen zusammen. Auf den breiten Boulevards verhallten ihre Rufe nach „Liberté, Egalité, Sarajevo“ beinahe ungehört. Dennoch diskutieren ein paar der Organisatoren jetzt darüber, ein tägliches Rendezvous für Sarajevo vor dem Vorplatz von Notre-Dame einzurichten. Die Regierung beantragte nach dem Massaker eine Sitzung des Weltsicherheitsrates. „Wir wollen ein Ultimatum für die Belagerung Sarajevos und einen Sicherheitsgürtel um die Stadt und wir müssen jetzt über Vergeltungsschläge aus der Luft entscheiden“, hieß es ein paar Stunden lang sehr entschlossen in Paris. Ein Satiremagazin im französischen Fernsehen, die „Bebête-Show“, präsentierte seine eigene Theorie der Kriegslage: „Solange wir da keine bretonischen Fischer hinschicken, wird nichts Neues passieren“, sagte dort die Puppe, die den Premierminister Edouard Balladur karikiert.
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