Müllers Kinn, Mommsens Block

Nachtmahl mit Gespenstern, die ganz gepflegt im Schuber spuken: Jannis Kounellis, Mark Lammert und Heiner Müller stellen ihre Arbeiten nebeneinander – ein Jagdobjekt für Bibliophile und andere Christenmenschen  ■ Von Durs Grünbein

Zwei Bücher, verbunden im schwarzen Schuber zu dem, was man in anderen Kreisen ein Doppelpack nennt, den Wortsinn nach allen Seiten gewendet: Heiner Müller und der griechische Bildmagier (Graphiker, Installateur, Maler, Bühnenbildner) Jannis Kounellis, Freunde beide, haben eine Art gemeinsames Mappenwerk, in bibliophiler 1.000er Auflage zum Buch vervielfältigt, im Reison-Verlag herausgebracht, und neben ihnen her, gleichberechtigt in mehr als einer Hinsicht, geht ein Künstler aus Berlin, auf den hier vor allem hinzuweisen ist: Mark Lammert.

Während die Altmeister, einig im griechischen Mythos, der Moderne und Postmoderne verbindet, sich in das eine der sorgfältig gedruckten, grauen Bücher teilen, gehört Lammert das andere fast allein. Nur der Eingangstext, ein Gedicht Müllers, Geständnis, Credo und Unabhängigkeitserklärung in einem, steht beiden Bänden identisch voran und gibt dem einen den Titel. „Ich hab zur Nacht gegessen mit Gespenstern / Jetzt holt Journaille meinen Schatten heim ...“, heißt es dort, im Original ein Neunzeiler, der als Stoßseufzer am Ende eines langen Prozesses zu lesen ist: Antwort auf die im vorigen Jahr probeweise gegen Müller erhobenen Vorwürfe, auch er habe den Moloch Staatssicherheit mit Informationen gefüttert. (Weil sein Verbrechen der andere Parasitismus war, Dramatik, die Leben verschlingt, Wildern in den Domänen staatlicher Politik, mußte sein Name nach der Inventur in den Listen der Wald- und Flurhüter auftauchen.)

„Müllers Kinn“ ist eine Serie von Radierungen überschrieben, die Lammert während der Proben zu Brecht/Müllers „Fatzer“ im Berliner Ensemble, den Regisseur aus den Augenwinkeln portraitierend, angefertigt hat. Wie stellt man nach dem Verschwinden des bürgerlichen Portraits in der Photographie den Charakterkopf dar? Das Dilemma führt zum archaischen Detail, zu den Fundstücken einstiger Ausgräber. Kinnlade und Schädelfragment. Auch Goethe wollte aus Hunderten Totenschädeln in einem Beinhaus ausgerechnet den Friedrich Schillers wiedergefunden haben.

Im Bild der markanten, vorgeschobenen und mahlenden Kinnlade faßte Lammert die Tage des feuilletonistischen Tribunals gegen Müller in einem Zyklus, auf den einzelne Blätter im Buch vorausweisen. Insgesamt vereinigt der Band zehn Lithographien und 28 Radierungen unter dem Titel „Blockade“, einer mehrdeutigen Chiffre, die das gewählte Verfahren, die Blockade des Gegenstands, und gleichzeitig den Zustand einschließt, in dem Kunst als soziale Phantasie sich augenblicklich befindet.

Wie macht man weiter, nachdem der Hintergrund für die historischen Allegorien des Ostens verschwunden scheint? Bestandsaufnahme und Revision, beides braucht den Prozeßbeobachter. Wie vor Gericht in geschlossener Sitzung einzig der Zeichner die Szenen und ihre Akteure festhält, so hat Lammert während der Proben zu einer Inszenierung Müllers die Arbeit am Deutschen Theater verfolgt.

Wenige Motive, im Buch paarweise geordnet (kniende, liegende, stehende Figuren), verweigern die Rekonstruktion des Geschehens: Wichtiger als das Abbild ist das Verfahren, der Affekt der Kaltnadel auf Kupfer, des Kugelschreibers auf Stein. Es geht um den kritischen Moment. Zumindest legt dies einer der Schlüsseltexte Müllers im zweiten Band nahe, „Mommsens Block“, ein Monolog über die Schwierigkeit von Dramatik nach dem Fall der Imperien.

„Tierlaute Wer wollte das aufschreiben“, fragt Müller, unendlich gelangweilt über die jüngste deutsche Peripetie, und fällt sich dann selbst ins Wort: „Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde.“

Dabei gab es auf seinem Spielfeld immer schon Kurioses neben dem gemeißelten Wort, die Improvisation neben dem Apodiktum. Nichts könnte das besser demonstrieren als die vorliegende Auswahl. Einer surrealistischen Prosaarbeit von 1951, einem Auftragswerk der FDJ zu den 3. Weltfestspielen, hier zum erstenmal veröffentlicht, folgt das Dramenfragment „Herakles 13“, dem Kounellis 5 Kopfstudien in picassoähnlicher Manier beigefügt hat.

Den Monolog über den Verfasser der Römischen Geschichte flankieren fünf Gedichte, Bruchstücke aus dramatischen Situationen, geschrieben in der Persona- Technik der Pound und Eliot, die Rollentausch und Egodistanz gleichermaßen erlaubt, solange die Form gewahrt bleibt und aus den Rissen nicht Selbstmitleid quillt. Heiner Müller kennt den Effekt des Maskenablegens seit „Hamletmaschine“, so weiß er, daß hinter der letzten Maske die leeren Versprechen den Illusionen auflauern. Nach der stolzen Formel des Dramatikers („Der Rest ist Lyrik“) taucht nun, wie von einer der letzten Wandzeitungen aus den Bürolabyrinthen der DDR, die Losung auf: „Meine Scham braucht mein Gedicht“.

Noch immer ist es der Gedankenschritt, der die Musik macht, in Müllers Stücken wie in seinen privaten Texten, die Meisterschaft in der Synekdoche, neu sind nur die gereizten Gesten und Anspielungen, die drohende Bitterkeit.

Eine Widmung wie die von „Mommsens Block“ – für Felix Guattari – rahmt die Zeilen besser als jeder Kommentar. Gegen den Abgesang stellt sie den Wunsch nach dem semantischen Weiterwuchern der Texte, ihren Eingang ins Wurzelreich, wo die Toten zu Hause sind. Den aufmerksamen Leser und Kunstbetrachter erwartet kein Materialband, kein literarisches Dossier aus den Systemkämpfen wie einst, doch ist diese Sammlung von Texten und Zeichnungen allemal Fundgrube genug. Dem Bibliophilen wird sie schon bald begehrtes Jagdobjekt sein.

Heiner Müller: „Ich hab zur Nacht gegessen mit Gespenstern“, mit fünf Zeichnungen von Jannis Kounellis, 48 Seiten, gebunden.

Mark Lammert: „Blockade“, 10 Lithographien und 28 Radierungen. Reison-Verlag (Marienburger Str. 30 a, 10405 Berlin), 64 Seiten, gebunden, zusammen (im „nachtschwarzen Schuber“, wie das bei 2001 heißen würde), ganze 124 DM.