■ Olympiade 1984 in Sarajevo: Damals
Freude und Glückseligkeit. Wegen des Schnees und der Kälte. Weil der Verkehr von Flugzeugen, Zügen, Bussen und Straßenbahnen trotz des hohen Schnees funktioniert. Wegen der 12.000 oder 13.000 neuen Bewohner der Stadt, der gekrönten Häupter, prominenten Politiker, Kulturleute und Unterhaltungskünstler, die zu den Gästen der bosnischen Metropole zählen. Wegen der Kneipen, die rund um die Uhr geöffnet sind. Weil die Welt angenehm überrascht ist, daß Sarajevo nach 70 Jahren wieder in den Schlagzeilen aller Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen ist... 1914 war dies nach dem 28. Juni so. Im Februar 1984 wegen der 14. Olympischen Winterspiele. Damals, 1914, töteten die Pistolenschüsse Gavrilo Princips den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin Sophie und gaben so den Auftakt zum Ersten Weltkrieg. Rund 70 Jahre später versucht die Jugend der Welt, im Sport auf Schnee und Eis die Rekorde ihrer Vorgänger zu brechen. Krieg in seiner schönsten Ausformung! Krieg ohne Gewehre und Pistolen! Mit einem Minimum an Handlung hinter den Kulissen, in einer Stadt, deren Schicksal so oft hinter den Kulissen entschieden wurde... Die Einwohner Sarajevos: verschiedene Nationen, Religionen, Kulturen, in einem Geist vereint. Im Zentrum der Stadt stehen 1984 auf einem einzigen Quadratkilometer eine Moschee, eine orthodoxe Kirche, eine katholische Kathedrale und eine jüdische Synagoge, und die Macht haben seit 40 Jahren die atheistischen Kommunisten... Das Aufeinanderprallen von Ost und West kann man in diesem Teil des Balkans, der schon auf den Zukunftszug der Zivilisation Europas und der Welt aufgesprungen ist, am besten erleben. Jene, die das Kommende überdauern, werden zugeben müssen, daß der Aufenthalt in Sarajevo im Februar 1984 einer der schönsten Augenblicke ihres Lebens war. Einer der lichtesten Zeitabschnitte Europas gegen Ende des 20. Jahrhunderts...
Acht Jahre nach den 14. Olympischen Winterspielen... Neun Jahre nach den 14. Olympischen Winterspielen... Zehn Jahre nach den 14. Olympischen Winterspielen... Alle wichtigen Leute der Weltpolitik reden über Sarajevo. Viele besuchen die Stadt, vor allem Journalisten, Militärs, Politiker, Friedensstifter, Schmuggler und Banditen. Die Zivilisten und das auf sportliche Wettkämpfe, auf Schnee und Eis erpichte Publikum jedoch ergreifen vor Sarajevo die Flucht. Sarajevo ist wieder auf den Titelseiten der Zeitungen. Sarajevo ist das Zentrum der europäischen Kultur. Das Zentrum der Finsternis und des Bösen in Europa. Sarajevo ist dem Tod geweiht. Aber stirbt nicht.
Möglicherweise wird Sarajevo im Jahre 2004 oder 2014 wieder anders sein als der Rest der Welt. Genau wie 1914, 1984 und 1994. Aber warum überhaupt über Sarajevo reden? Die Tradition der Olympischen Winterspiele wird erfolgreich fortgesetzt. Verwüstung und Sterben in Sarajevo auch. Das einzige, was noch Bestand hat, ist jener Quadratkilometer im Zentrum der Stadt. Und auch das Embargo zur Einfuhr von Waffen für die Verteidigung der Stadt vor den faschistischen Phalangen besteht noch immer. Zwischen diesen zwei Stichworten stehen Humanität, Demokratieverständnis und Sportsgeist der modernen Welt. Zlatan Čabaravdić
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