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■ Mit der heutigen Eröffnung der Winterspiele bewohnen die 23.000 Einwohner von Lillehammer eine Weltstadt, in der die Elche los sindFünf Ringe für ein weißes Wintermärchen

Fünf Ringe für ein weißes Wintermärchen

Lillehammer, ein Wintermärchen: Wo die Menschen nicht nur den Schnee von den Straßen schippen, sondern auch von ihren Dächern. Wo das Wasser des Duschstrahls das Blut in den Adern stocken läßt. Wo auf den Straßen Langläufer von Bussen überholt werden. Wo meterhoher Schnee bei jedem Schritt knirschend die Alternative zum Walkman bietet. Wo die Zahl der vermummten Menschen nur während Olympischer Spiele die Anzahl der Skier übertrifft.

Gegen Schneemangel haben sich die Organisatoren mit zehn Millionen Kronen (2,5 Millionen Mark) versichern lassen. Dieselbe Summe dürfen sie nun aufbringen, um den Schnee, der so ausgiebig fiel wie seit 43 Jahren nicht mehr, beseitigen zu lassen. Nachts karren Lastwagen die weiße Pracht aus der Stadt. Die Augen des amerikanischen Abfahrtläufers A.J. Kitt strahlen: Drei Monate ist er dem Winter hinterhergefahren, immer auf Steinen rumgerutscht: „Endlich habe ich ihn gefunden.“

Man muß emphatisch beginnen, sonst wird man den Einheimischen nicht gerecht, die sich mühen, mit ihrem kleinen Lächeln zum großen Sport beizutragen. JedeR weist einem hilfsbereit den Weg, auch auf die Gefahr hin, daß es der falsche ist. Hauptsache es wird geholfen. Wo der Winter noch Winter sein darf, ist alles, bis auf die Schneemassen, eben eine Spur familiärer. Lillehammer ist mit 23.000 EinwohnerInnen der kleinste Ort, der sich je daran wagte, das gigantische Spektakel Olympischer Winterspiele auf sich zu wälzen.

„Wir haben binnen dreier Jahre die Investitionen von 20 Jahren nachgeholt“, sagt Od Arve Lien, Vize-Bürgermeister von Lillehammer. Drei Milliarden Mark wurden in die Winterspiele gesteckt. Allein 375 Millionen verschlang der Bau der Anlagen. Teuerstes Projekt der Spiele ist das „Wikingschiff“, die Eisschnellaufhalle in Hamar, mit 55 Millionen Mark.

Hilde Helene Rustad wohnt in Nordseter, einem Hüttendorf im Norden Lillehammers. Dank Olympia muß sie ihre Notdurft nicht mehr im Wald verrichten. Wegen der 2.000 AthletInnen, die an 16 Tagen in 61 Wettkämpfen um den Lorbeer streiten, wurde der Olympiaregion ein ansehnliches Facelifting verordnet: breite Straßen, neue Kanalisation und die modernste Telekommunikation via Satellit. „Auf der ganzen Welt gibt es nicht soviele Mobiltelefone wie hier“, sagt Lars Skjölaas, Landrat von Opland: „Endlich haben wir die 17 reichen Küstenregionen eingeholt.“

Als wichtigste Einnahmequelle hat Lillehammer den Tourismus ausgemacht. Durch die Spiele wurden 6.200 Gäste neu gebettet. Vier Millionen Übernachtungen zählte das Tourismusbüro bereits 1993 – als ob ganz Berlin oder all die Arbeitslosen aus Deutschland vorbeigeschaut hätten. Und deshalb ertragen die NorwegerInnen den Überfall der 100.000 prognostizierten ZuschauerInnen pro Tag, der 12.000 Olympia-Angestellten und 8.000 MedienvertreterInnen, die ihrem kleinen Städtchen die Ruhe klauen und es mit grellen Farben überziehen (die 250 JapanerInnen des staatlichen Fernsehprogramms sind ganz in Lila gewandet). „Wir haben es nicht anders gewollt“, sagt Thor Johan Haugen (67), Rentner. Viele haben ihre Wohnungen geräumt. Ist ja nicht einzusehen, warum sich nur ein paar AthletInnen und um so mehr Firmen eine goldene Nase verdienen sollen, wenn man den TouristInnen pro Nacht und Bett im Schnitt 250 Mark abknöpfen kann, da die Hotels das Doppelte verlangen.

Lillehammer war kein Ort, der sich in der „Tagesschau“ ereignete. Zwei Milliarden TV-ZuschauerInnen werden das Versäumnis in den kommenden zwei Wochen wettmachen. Organisationschef Gerhard Heiberg nutzt jede Gelegenheit, zu betonen, Sport dürfe kein Selbstzweck sein. Fürwahr. Die Stadt buhlt um Aufmerksamkeit. Sie darf es ungescholten, nicht nur, weil Lillehammer der einzige Ort der Welt ist, der einen Skifahrer im Wappen trägt. Nein, dieses Land, dessen Gründer, der sagenumwobene Nor, auf Skiern von Norden kam, ist sportsüchtig. 2,5 Millionen Arbeitstage gehen, laut Arbeitgeberverband, wegen Olympia flöten – ein Arbeitsausfall von 650 Millionen Mark. Die Schulen haben — getreu dem olympischen Motto — geschlossen. Und wer nicht dabei sein kann, wird als Durchschnitts-WikingerIn 7,6 Stunden täglich (!) vor dem Fernseher verbringen. Das erste TV- Programm, das sonst erst ab 17 Uhr sendet, zeigt ab heute Sport von acht bis 23 Uhr.

1,5 Millionen Karten sind bereits verkauft. 250.000 Anfragen für die Langlaufstaffel sind eingegangen. 30.000 Plätze gibt es nur. Der Rest wird, wie es sich für einen wahren Nor(weger) gehört, auf Skiern im freien Gelände den Wettbewerb verfolgen. Skier sind schließlich der norwegische Exportschlager.

Von Telemark aus hat der „Holzscheit“ die Welt erobert und sich in allen Sprachen niedergelassen. Kein Wunder, daß es heißt, Norweger würden mit Brettern an den Füßen geboren, wenn die Monarchen-Familie Olympiasieger stellt. 1928 König Olav V., im Segeln zwar, aber das macht nichts, weil er dafür beim traditionellen Holmenkollen-Springen auf Platz drei sprang.

„Für diese Gegend ist es sehr gesund, einmal Nabel der Welt zu sein“, meint Hilde Helene Rustad, die seit 20 Jahren in Lillehammer wohnt. Die Stadt habe sich verändert, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Und die Menschen? Synnöve Aamodt Svelle behauptet: „Wir hören gerne von anderen, aber am liebsten bleiben wir zu Hause mit den Leuten, die wir kennen.“ Hilde Helene Rustad zögert: „Wir sind selbstbewußter geworden, weil wir gelernt haben, auf andere zuzugehen.“ Olympia sei Dank.

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