Aufschrei gegen Intoleranz

Talent ist kein Privileg der reichen Länder — Der kubanische Film „Erdbeer und Schokolade“ von Tomás Gutiérrez Alea im Wettbewerb  ■ Von Jesús Díaz

Mehr als jede andere Kunstform wird der Film in der Regel ausschließlich als Produkt der Kulturen reicher Länder identifiziert. Das Establishment dieser sich als die Erste bezeichnenden Welt kann zwar einige große Maler, Schriftsteller oder Musiker hinnehmen, die nicht aus ihren eigenen Eingeweiden stammen. Sehr viel schwieriger aber fällt es ihr anzuerkennen, daß auch außerhalb ihrer engen Grenzen eine Filmkunst mit unwiderruflich universellem Anspruch und Wert existiert. Diese Versuchung des Exklusivismus hat eine unheilvolle Folge für Westeuropa gehabt: Film wird hier vom breiten Publikum gleichgesetzt mit nordamerikanischem Film, mit seinen jurassischen Trickeffekten und seinen millionenschweren Budgets. Der kubanische Film „Fresa y Chocolate“ (Erdbeer und Schokolade), der am Samstag im Wettbewerb der Berlinale gezeigt wurde, beweist nun zweierlei: daß Filmkunst nicht das Ergebnis von Geld ist, sondern von Talent; und daß letzteres kein Privileg der Kulturen reicher Länder ist, sondern allen Kulturen gleichermaßen zueigen ist.

„Fresa y Chocolate“ ist ein außergewöhnlicher Film, weil er einige der zentralen Aspekte und tiefsten Ängste der kubanischen Kultur in ihrer dramatischen aktuellen Situation verschmelzen läßt. Deswegen aber geht er nicht nur Kuba etwas an; weitaus mehr als man denken könnte, finden sich die Probleme, die die Kubaner bedrücken, auch in anderen Breitengraden wieder — wie das Lachen, der Applaus und sogar die Tränen gezeigt haben, mit denen das Premierenpublikum im übervollen Zoo-Palast den Film begleitet hat.

„Fresa y Chocolate“ dreht sich fast ausschließlich um drei Personen: David (Vladimir Cruz), ein junger Student der Sozialwissenschaften mit schriftstellerischen Ambitionen, ein orthodoxer und naiver Verfechter der Revolution; Diego (Jorge Perugorría), ein Homosexueller, der die Kultur nicht nur als Vergnügung, sondern auch als Verpflichtung empfindet; und Nancy (Mirta Ibarra), eine reife Frau, die von ihrer Einsamkeit erdrückt wird und die so gut sie kann mit der Last ihres Alltags kämpft. Inmitten eines Dschungels von Vorurteilen und Unverständnis entwickelt sich zwischen ihnen eine mitreißende, freundschaftliche gleichwohl leidenschaftliche Dreiecksbeziehung. Durch die dem Tanz verwandten Körperbewegungen der KubanerInnen gewinnt die schauspielerische Leistung der drei einen ungewöhnlichen Facettenreichtum, und sie berühren durch ihre Authentizität in den komischen, den tragischen, oder auch einfach in den tragikomischen Szenen. Die Darbietung von Jorge Perugorría als Diego ist herausragend, und es scheint nicht übertrieben zu behaupten, daß ihm damit die vielleicht komplexeste, überzeugendste und nahegehendste Darstellung eines Homosexuellen in der Geschichte des Films gelingt.

Das Drehbuch für „Fresa y Chocolate“ stammt von Senel Paz, einem der bemerkenswertesten Schriftsteller im heutigen Kuba. Grundlage war seine Kurzgeschichte „Der Wolf, der Wald und der Neue Mensch“ (ein deutscher Verlag sollte sie übersetzen und veröffentlichen, um damit den Erfolg des Films zu ergänzen). Es handelt sich nämlich, was die Vielfalt von Nuancen in den Beziehungen zwischen den Personen angeht, um ein außergewöhnlich komplexes Drehbuch; gleichzeitig ist es ein sehr einfaches Drehbuch, was die finanziellen Erfordernisse für seine Umsetzung betrifft – eine Arbeit, die als paradigmatisch für die Filmkunst armer Länder bezeichnet werden kann.

Das Lob gebührt aber vor allem den beiden Ko-Regisseuren, Juan Carlos Tabío und Tomás Gutiérrez Alea, der diesen Film auch erdacht hat und die Hauptverantwortung dafür trägt. „Fresa y Chocolate“ ist in der Tat die Fortsetzung und gleichzeitig einer der Höhepunkte in Aleas Schaffen, das Klassiker wie „Der Tod eines Bürokraten“ und „Erinnerungen an die Unterentwicklung“ umfaßt. Mit diesem neuen Beweis seiner Kunst und seiner ethischen Konsequenz, in der Schlußumarmung von David und Diego, die ein Aufschrei gegen die Intoleranz ist, eine Behauptung der Freundschaft, der Kultur und der Liebe als unverzichtbare Werte nicht nur für Kuba sondern für die Welt insgesamt, hat Tomás Gutiérrez Alea seinen Rang als Meister der kubanischen Filmkunst bestätigt. Genauer: als Meister der Filmkunst.

Der Autor ist kubanischer Schriftsteller und lebt in Berlin. Übersetzung: Bert Hoffmann

Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío: „Fresa y Chocolate“ (Erdbeer und Schokolade). Kuba/Mexiko/Spanien 1993, 110 Min.