Das Kind als „letzte Gegeneinsamkeit“

Serie: „Berliner Gören '94“ (erste Folge) / Die Kindheit in Berlin wird überschattet von den Umbrüchen und Unsicherheiten der Erwachsenen in einer Stadt, die selbst nach einer neuen Rolle sucht  ■ Von Detlef Berentzen

1. Am Landwehrkanal. Ein Kind spricht den Mann an. Es mag neun Jahre alt sein. Eben hat es noch den Asphalt des Weges mit einem ausgefransten Seil gepeitscht: „Haben Sie mal eine Mark für mich? Ich kann nicht zu Hause rein. Hab' keinen Schlüssel. Meine Mutter ist auf Arbeit. Ich weiß nicht wo. Ich weiß nur, daß sie erst um 20 Uhr nach Hause kommt.“ Das Kind ist allein. Nachdem der Mann sich ein wenig mit ihm unterhalten hat, aber kein Geld herausrückt, malträtiert das Kind wieder den Bürgersteig.

2. Die beiden anderen Kinder, denen der Mann Minuten später beim Bäcker begegnet, wollen sich aus der Vitrine ein wenig Süßkram aussuchen. Die Verkäuferin fährt die Kinder (mit verschwörerischem Blick in Richtung des Mannes) an: „Wenn Ihr noch lange braucht, gibt es gar nichts“, um dann (mit einem honigsüßen Lächeln an den Erwachsenen gewandt) zu säuseln: „Was darf es denn sein?“ Die Jungs feixen.

3. Als der Mann, wiederum nur wenig später, aus dem Fenster seiner Wohnung schaut, nimmt er draußen eine Frau wahr. Sie geht geduldig auf und ab, wartet auf ihr Dreijähriges, das ein Stück Papier auf dem Boden gefunden hat und es, durchaus mit Stolz, dem nächst erreichbaren Auto auf die Motorhaube legt. Die Frau geht zu dem Kind, nimmt es zärtlich in die Arme, flüstert etwas in sein Ohr und gibt ihm einen Kuß...

Berlin sei „kinderfeindlich“, steht zu lesen. Es gebe Umfragen, die dies belegen. „Kinderfeindlich“ ...eine Binsenweisheit. Es gibt keine „kinderfreundlichen Städte“. Und es kann – bei realistischem Blick – keine Hoffnung darauf geben, daß profitlogisch konstruierte Städte dies jemals werden. Ganz davon abgesehen, daß Städte niemals „kinderfreundlich“ waren. Überhaupt, grundsätzlich gilt: Städte sind so freundlich zu Kindern wie ihre erwachsenen Bewohner, ...wobei es nicht einmal irgendeiner aufgesetzten und extra betonten Freundlichkeit bedarf, sondern lediglich des Respekts. Es gälte, das Kind als vollständigen Menschen zu respektieren. Als Menschen mit ernstzunehmenden Gefühlen, mit eigenen Bedürfnissen und eigenen Fähigkeiten. Und eben dieser Respekt ist in Berlin noch viel zu selten anzutreffen. Aber: Er ist anzutreffen.

Wer wollte verneinen, daß in dieser Stadt Eltern leben, die sich, durchaus anrührend, um ein einfühlsames Verhältnis zu ihren Kindern mühen? Und das in allen sozialen Schichten, nicht etwa nur in der „Alternativszene“! Natürlich gibt es gleichzeitig auch Eltern, denen ihr Kind, mit Verlaub gesagt, „scheißegal“ ist: Ein „Etwas“, das autoritär-bestimmt zu funktionieren hat – zwischen diesen beiden Polen aber existieren die verschiedensten Formen des Umgangs mit Kindern: von der religiösen Erziehung im Geiste des Koran über „gutbürgerliche“ Erziehungsmodi bis hin zu immer noch zu verzeichnenden Varianten eines (gequält) lächelnden „Laisser-faire“. Vielfältige Formen also, die beim differenzierenden Denker eines nicht zulassen: die Behauptung, „Berlin“ sei im Hinblick auf Kinder dies oder „Berlin“ sei das. Was indes allen Eltern dieser Stadt gemein ist? Daß der epochale Umbruch der letzten Jahre ihr Verhältnis zu Kindern einmal mehr verändert:

Manche haben angesichts der krisenhaften Entwicklung der Stadt bereits den Wunsch nach Kindern aufgegeben. Besonders ist dies, glaubt man den Statistiken, in den östlichen Bezirken der Fall. Und daß gerade dort, wo soziale Unsicherheit existiert, kein Auskommen mit dem Einkommen möglich ist, dort, wo individuelle Perspektiven verlorengehen, Armut ins Gesichtsfeld rückt. So durchaus richtig und erwartungsgemäß der Gemeinplatz der Soziologen. Wie steht es aber mit den numerisch ständig zunehmenden Singles im Westen? Den Ein-Zimmer-Appartement-Bewohnern in Charlottenburg und Lichterfelde beispielsweise? Ihnen standen Kinder schon vor dem Mauerfall im Weg: bei der Selbstverwirklichung, bei der Karriere, mitunter gar beim Golfspielen.

Gerade die mittelständischen Singles sind es, die – bis hinein in die Facetten der Stadtplanung – begonnen haben, kulturell zu dominieren. Folge: eine Kultur, in der, wie bereits schon länger in der amerikanischen, zunehmend davon gesprochen wird, daß Kinder wohl eher Grund für „seelische Belastung denn für übergroßes Glück“ sind. Diese medial verbreitete Erkenntnis deucht seltsam genug: Die Behauptung, daß Kinder ausschließlich als „Heilsbringer“ auf die Welt kommen, als „Freudenspender“ und „Hoffnungsträger“, gehört seit langem auf den Misthaufen der falschen Illusionen. Kinder machen (auch) Dreck, sie machen (auch) Arbeit, und sie machen (auch) Geschrei, natürlich nerven sie – aber: Das gehört dazu. Immer schon...

Ebenso wie – seit Jahrhunderten – jener Verband, in dem Kinder aufwachsen: die Familie. Sie galt als „Norm“. Sie „galt“, denn die „Normfamilie“ existiert nicht mehr. Vor allen Dingen nicht in Berlin. Dort, wo mehr als jede dritte Ehe geschieden wird. Dort, wo es von Alleinerziehenden wimmelt. Dort, wo Singles sich aufatmend zurücklehnen, froh, dem nervtötenden Geschäft der Auseinandersetzung um Kind und Mann, um Großvater und -mutter, um Familie eben, entronnen zu sein. Dort eben, wo sich das erwachsene Leben mehr und mehr auf den einsamen einzigen reduziert.

Wer indes aus dem Trend der zunehmenden Isolation ausbricht, das Experiment „Familie“ wagt, neigt zur Kompensation des allgemein-gesellschaftlichen Elends: Ihm wird das Kind, wie der Soziologe UIlrich Beck urteilt, zur „letzten Gegeneinsamkeit“: „Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt. Auf es richtet sich all das, was in die Partnerschaft hineingesehnt, aber in ihr unauslebbar wird. In ihm wird eine anachronistische Sozialerfahrung kultiviert und zelebriert, die mit dem Individualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlich wird.“

Doch ist diese Entwicklung nicht zu bejammern. Nach dem Primat des Zwangskollektivs „Familie“ tobt sich all das bislang Gezwungene erst einmal im Gegenteil aus: in der „Egoismusfalle“. Es ist nicht mehr und nicht weniger passiert, als daß das traditionelle Leitbild der Familie zum Anachronismus geworden ist. Die Rollen von Frau und Mann sind in Bewegung geraten. Und nichts wird die patriarchalisch-organisierte Familie zurückholen. Kinder, die heute in Berlin geboren werden, wachsen also in einer Zeit des Umbruchs auf. Nichts ist gesettled. Da wohnt der Vater von der Mutter getrennt, da will die Mutter vielleicht gar keinen Vater für ihr Kind oder: Man lebt zusammen, ohne Trauschein, „solange es gut geht“. Und dort, wo Mann und Frau sich tatsächlich noch „trauen“, da ist ebenfalls klar, daß es keine Garantie für eine „auf Dauer“ gemeinsam ausgeübte Elternschaft gibt. Eine Situation der Unsicherheit, der Desorientierung dies, die gleichzeitig den Wunsch nach einem Kind zu etwas Besonderem macht: Mann und Frau „bekommen“ nicht einfach mehr ein Kind, sie entscheiden sich zunehmend dafür. Und immer mehr ist dies die Entscheidung für eine „Rarität“. Die Kinderzahl pro Familie nimmt tendenziell ab.

Erst in dieser Situation scheint es breiteren Schichten möglich und vor allen Dingen nötig, dem Kind mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Ganze psychologische Bibliotheken beschäftigen sich mit Geburt und Aufwachsen des Kindes. Radio- und Fernsehsendungen geben kluge Ratschläge. Kaum noch eine Frau, die ein Kind gebärt, ohne sich zuvor wenigstens im Ansatz Gedanken darüber zu machen, wo und wie sie dies tun soll: ob mit oder ohne Geburtsvorbereitung, ob als Hausgeburt oder im Einzel- Kreißsaal, ob in einem der beiden „Geburtshäuser“ der Stadt oder gar ambulant bei einer Hebamme. Von „selbstbestimmter“ und „natürlicher Geburt“ ist die Rede, und selbst der mit solchen Begriffen hadernde Geburtshelfer macht sich zumindest Gedanken darüber, wie er die Geburt ohne ein Übermaß an Technik begleitet. Ein Unding, wenn man nur zwei oder drei Jahrzehnte zurückdenkt.

Seinerzeit stand ein Teil der Nachkriegsgeborenen (nicht nur) in Berlin auf und stellte kritische Fragen an die Elterngeneration, an die Gesellschaft. Fragen auch nach ihrem autoritären und unwürdigen Umgang mit Kindern. Die „Kinderagenten“ forderten den Bruch mit der Tradition: Gut 25 Jahre haben gereicht, um im Westen der Stadt das traditionelle Bild, aber auch die Realität von Kind und Familie zu verändern, sie, qua Umwertung der Lebensphase Kindheit, in Widerspruch zu allen bisherigen Bildern und Realitäten zu bringen. Und der Osten Berlins? Den dort lebenden Eltern und Kindern bescherte der November 1989 den wohl radikalsten Bruch mit den bis dato geltenden autoritären Konzepten von Erziehung und Pädagogik – gut so!

...Brüche, Neubewertungen allerorten – Problem nur, daß bislang kein allgemeingültiges und verbindliches neues Bild, eine konsumierbare neue Realität an die Stelle der alten gesetzt worden ist. Statt dessen existiert eine Vielfalt von Denkangeboten und Erziehungsrealitäten. Eine für die Erwachsenen oft unübersehbare, irritierende Vielfalt, eine, in der sie gerade dem Kind viel, nicht selten allzuviel abverlangen. So bleibt das Kind vorerst Opfer der tatsächlich chaotischen Situation. Vorerst. Ein neues, besser: ein anderes Verhältnis zu Kind und Familie ist erst noch im Werden begriffen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Serie wird am Montag kommender Woche fortgesetzt.