Trolle und andere Unwesen

Zur olympischen Eröffnungsfeier kamen 40.000 Zuschauer: Anwesend waren neben einigen guten Geistern auch ein paar böse  ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim

Es gibt – außer der Erkältungsgefahr – gute Gründe, nicht zu olympischen Eröffnungsfeiern zu gehen. Als die Norweger ihre Hütten mit der rot-blau-weißen Fahne zu schmücken begannen, und einer nach dem anderen mit der Flagge im Rucksack sich auf den Weg ins hoch über dem Städtchen gelegene Skisprungstadion Lysgardbakken machte, entfuhr Marc, dem Franzosen, ein „ich kann diese Form des Nationalismus nicht ab“. Lillehammer war herzlich un-nationalistisch. Was man ja vorab nicht wissen kann. Für Marc entfaltet sich die olympische Idee im allgemeinen aber ohnehin am besten, wenn sie „ohne Sport, Kommerz, Leistungsstreben“ auskommt. Marc geht nicht zu Wettkämpfen. Er ist aus Paris eingeflogen, um seine höchstpersönlichen Spiele zu feiern: „Hier kannst du mit so vielen unterschiedlichen Leuten in allen möglichen Sprachen reden. Das ist toll, wie im Robinson Club.“

Ole Gunnar Fidjestöl hatte auch gute Gründe, der Veranstaltung fern zu bleiben. Er war im Krankenhaus. Der frühere Skisprung- Weltrekordler war bei einem Probe-Fackelsprung schwer gestürzt. Seinen Platz als Feuervogel hatte dafür Stein Gruben eingenommen.

Für fast 40.000 Menschen gab es offensichtlich gute Gründe, die Eröffnungsfeier am Samstag – gerade in Lillehammer – nicht zu versäumen. Frank (Düsseldorf): „Ich hoffe, es wird endlich einmal keine nur fürs Fernsehen konzipierte Veranstaltung, sondern eine Geschichte, die ein bißchen auf die Kultur dieses Landes eingeht.“ In der Tat: Dag Alveberg, einer der prominentesten Filmproduzenten Norwegens, gelang das Kunststück, ein Spektakel ohne artifiziellen Größenwahn, dafür mit viel Natursinn zu inszenieren. Eine „einfache Zeremonie“ sollte es werden. Simpel war sie gar nicht. Natürlich war sie schon: Beispielsweise, als 80 Skiläufer im Telemarkstil die Schanze hinuntersprangen und Fiedler ein Musikstück anstimmten, das vom Teufel selbst inspiriert sein sollte.

Diese „heidnischen Elemente“ hatten drei norwegischen Bischöfe derart mißfallen, daß sie im Vorfeld hochoffiziell Protest einlegten. Wie es denn sein könne, daß derart unchristliche Motive wie das „olympische Feuer“ und Gestalten aus der nordischen Mythologie vor einem Fernsehpublikum von zwei Milliarden anwesend sein dürfen? Ist schon bitter, wenn „Vettern“ und „Trolle“, die Unholde in Riesen- oder Zwergengestalt, denen man nachsagt, daß sie liebend gerne Christen bedrohen, da ihnen selbige besonders gut munden, ihr Unwesen treiben dürfen. Oder muß man gar annehmen, die Herren der Kirche waren gegen Aberglaube auch nicht gefeit? Schließlich bewahrt sie in der Zauberwelt nur ein ausgestrecktes Kreuz – oder moderner, ein Protestbriefchen – vor dem kannibalischen Gebaren der bösen Trolle.

Und die sind überall – im Wald, unterm Schnee, im Nebel. Bei Olympischen Spielen. Sie können zwar steinalt werden, zerplatzen aber wie eine Seifenblase bei Sonnenlicht, weshalb sie erst als es dunkelte in Erscheinung traten. Was heißt traten? Trolle trudelten und rollten sich, ganz ihrem Wortstamm trullon gemäß.

Robert kommt aus San Franciso und ließ, soweit er zurückdenken kann, keine Eröffnungsfeier aus: „Ich muß dabei immer so weinen.“ Geweint wird in Bosnien viel. Als das kleine Rumpf-Team Bosnien- Herzegowina einmarschierte, brandete im unterkühlten Stadion ein warmer solidarischer Jubel auf. In keiner Rede wurde Sarajevo, die „Tragödie“, vergessen. Friedensengel Samaranch forderte die Kriegstreiber – die vermutlich am Fernseher lauschten – auf, die Waffen doch bitte fallen zu lassen, und das Publikum, eine Minute zu schweigen. Vor der Arena protestierten stumm vier Bosnier mit Plakaten: „Samaranch: Was wird aus Lillehammer in zehn Jahren? Sarajevo?“

Thor (54) reihte sich in den Bandwurm der Zuschauer ein, der Stunden zuvor Meter für Meter den Berg hinangekrochen war, „weil die Spiele nach 1952 nun zum zweitenmal in Norwegen sind“. Der Durchschnittsnorweger aber scheint ein gespaltenes Verhältnis zu den Herren der Ringe zu pflegen. Repräsentative Umfragen bescheinigen dem Grande aus Barcelona die niedrigsten Werte auf der Beliebtheitsskala, auf der Vegard Ulvang, Liebling des Volkes und Sprecher des olympischen Eides, ganz oben steht. Dieser hat Samaranch wegen seiner franquistischen Vergangenheit als undemokratischen und deshalb ungeeigneten Sportrepräsentanten zu rügen gewagt. Sehr zur Freude seiner Landsleute, die den olympischen Herrscher in der Generalprobe durch einen Statisten auch noch herzhaft veräppelten. Sehr zum Ärger des IOC, das verlautbaren ließ, Ulvang habe sich entschuldigt. Was dieser seinerseits heftig dementierte: „Ich spreche den olympischen Eid, weil ich mich an die olympischen Spielregeln halte. Dort steht nirgends, daß man seine Meinung als Athlet nicht frei äußern dürfe.“

Auch die Benennung des deutschen Fahnenträgers entbehrte eines gewissen Witzes nicht. Man habe „harte Kriterien“, die man „flexibel“ zu handhaben beliebte, versuchte sich Walther Tröger, Chef de Mission des deutschen Team, in germanischer Geistes- Gymnastik. Hintergrund seiner Wortakrobatik: Georg Hackl, der stramme Schorsch aus der Bundeswehr, hätte, wenn es nach den Funktionären, die gerne immer das Sagen haben, auch immer ginge, das Banner hochhalten sollen. Es ging nicht. Der Rodler zog es vor, sich auf seine Rodelpartie am nächsten Tag vorzubereiten. Sinnigerweise und „mental“, was immer das auch heißen mag. Also kam das nächste „harte Kriterium“ zum Tragen: „Erkennbar anwesend“ (Tröger) müsse der Fahnenträger irgendwie schon sein. Demnach gab es offensichtlich auch für den Soldaten Mark Kirchner, den Doppelolympiasieger im Biathlon, gute Gründe, bei der Auftaktsfestivität nicht zu fehlen.

Und wer dennoch fernblieb, konnte vom Tal aus wenigstens ein nordisch-romantisches Feuerwerk – Sinnbild der „weißen, grünen Spiele“ (Samaranch)? – miterleben.