Am Standard-Menschen orientieren

■ Die elektronische Erfassung erlaubt eine lückenlose Kontrolle der Ärzte und deren Behandlungskonzepte

Erika Mustermann hat Gesellschaft bekommen. Neben dem maschinenlesbaren Personalausweis, Eurocheque-, Kredit- und Telekarten wird den BundesbürgerInnen nun noch ein weiteres Plastikkärtchen in die Brieftasche gesteckt: die Krankenversichertenkarte. – Krankenscheine aus Papier haben ausgedient. Seit Anfang des Jahres wird die neue Karte – nach Testläufen in verschiedenen Regionen – nun in Hessen, Thüringen und Baden-Württemberg ausgegeben; bis Ende 1994 soll sie flächendeckend eingeführt sein. Dann soll jeder gesetzlich Versicherte die Speicher-Chipkarte ständig bei sich haben und immer dann vorlegen, wenn er oder sie zur ÄrztIn geht, ins Krankenhaus muß oder in der Apotheke Medikamente abholt. So schreibt es das seit 1993 gültige Gesundheitsstrukturgesetz vor.

Auf dem Kärtchen selbst stehen bisher nur wenige Verwaltungsdaten, nämlich die Namen der Krankenkasse und des Versicherten, dessen Anschrift, Geburtsdatum und Versichertenstatus, die Gültigkeitsdauer sowie die Kassen- und Versichertennummer. Direkt von der Karte können diese Angaben automatisch auf Abrechnungen und Rezepte übertragen und maschinell weiterverarbeitet werden. Die ÄrztIn kann die Karte in ein Lesegerät stecken und die Daten ausdrucken lassen; geändert werden können sie jedoch nicht.

Technisch wäre es problemlos möglich, auch medizinische Daten auf der Karte zu speichern. Denn die Spitzenverbände von ÄrztInnen und Krankenkassen haben frühzeitig entschieden, die Karte mit einem Chip auszustatten. Zwar hätten auch Karten mit Magnetstreifen oder Prägeschrift den gesetzlich vorgeschriebenen Zweck erfüllt und wären zudem noch billiger gewesen. Doch diese Technik hätte sämtliche Pläne zur Erweiterung der Karte, die längst in den Schubladen von Gesundheitsbürokratie, Industrie und Forschung liegen, wirkungsvoll blockiert.

Die Krankenversichertenkarte ist das Einstiegsbillet für ein Gesundheitswesen, das auf EDV umgestellt wird. Kassen und Kassenärztliche Vereinigungen tauschen künftig ihre Daten papierlos untereinander aus. Sämtliche 150.000 ÄrztInnen und ZahnärztInnen müssen sich Lesegeräte und Drucker anschaffen. Neben den Beitragsdaten der Versicherten, wie Anschrift, Arbeitgeber und Bruttoeinkommen, werden auch die Leistungsdaten über die Krankheiten der Menschen und ihre Behandlung computergerecht bei den Kassen gespeichert. Statt handschriftliche Bemerkungen auf dem Krankenschein zu notieren, müssen ÄrztInnen ihre Diagnosen nun nach einer gesetzlich vorgeschriebenen Klassifikation in Ziffern codieren. „Mit Einführung der Krankenversichertenkarte“, so der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, Otfrid Schaefer, „wird in unserem Gesundheitswesen eine Struktur geschaffen, die nahezu zwangsläufig die elektronische Verarbeitung aller Leistungsdaten im Bereich der Gesundheitsverwaltungen zur Folge hat.“

Das Ziel der großangelegten Computerisierung heißt: Kosten sparen. Zunächst allerdings müssen die Versicherten zahlen – für ihre eigene Verdatung. 750 Mark schießen die Kassen pro Praxis für die neue Technik zu, 500 Millionen Mark aus Beitragsgeldern hat die Umstellung bereits verschlungen. Bald aber soll sich die Investition auszahlen. Zum einen durch rationalisierte Arbeitsabläufe. Zum anderen durch eine „transparente Leistungsabrechnung“. Dahinter verbirgt sich schlicht eine effektivere Kontrolle der ÄrztInnen. Bisher nämlich türmten sich Millionen von Krankenscheinen – weitgehend ungenutzt – in den Kellern der Krankenkassen. Geprüft wurde nur stichprobenartig. Sobald aber alle Daten maschinenlesbar bei den Kassen eintreffen, lassen sie sich per Knopfdruck auswerten. Die großangelegte Fahndung – gestützt auf Durchschnittswerte und Richtgrößen – kann beginnen. Wer behandelt anders als die durchschnittliche FachkollegIn? Wer schreibt zu oft krank, und wer verordnet zu viele Massagen oder Medikamente?

Die bürokratische EDV-Kontrolle, die mit Einführung der Krankenversichertenkarte ausgebaut wird, erhebt die schulmedizinische Durchschnittsbehandlung zum Standard – als gehörten wir alle zur Familie Mustermann, der immer die gleiche, billige, mustergültige Therapie helfen könnte. Ute Bertrand