Vertreibung mit bürokratischen Mitteln

■ In Serbien und Kroatien werden Angehörige von Minderheiten aus ihren Wohnungen verdrängt / Die Polizeibehörden dulden den Hausfriedensbruch

Berlin (taz) – Stromausfall in Split. Die 20jährige Janita (Name von der Redaktion geändert) und ihre Familie sitzen in ihrer von Kerzenlicht nur spärlich erleuchteten Wohnung in der kroatischen Hafenstadt. Gegen Mitternacht wird die Tür mit Fußtritten aufgebrochen. Die Familie und der von ihnen angeheuerte Wachschutzmann Dido (Name geändert), schrecken zusammen. Herein kommt ein mit zwei Pistolen und einem Gewehr bewaffneter Mann. Zunächst fordert er die Anwesenden seelenruhig auf, „seine“ Wohnung sofort zu verlassen. Als sie sich weigern, wird er laut, schießt wutentbrannt in den Boden. Janita ergreift mit dem Wachmann die Flucht ins Treppenhaus, verfolgt von dem schwerbewaffneten Eindringling. Als sie das dunkle Treppenhaus hinunterlaufen, fällt ein Schuß, Dido bricht, in den Rücken getroffen, zusammen.

Der Wachmann war – wie sein Mörder – Soldat in der kroatischen Armee (HVO). Möglicherweise haben beide einst zusammen am gleichen Frontabschnitt gekämpft, haben die gleichen Todesängste ausgestanden. Die beiden Kriegsheimkehrer nahmen unterschiedliche Wege: der eine hatte keine Perspektive, wollte auf einen Tip hin die Wohnung eines ehemaligen jugoslawischen Soldaten besetzen. Dido, der andere, fand eine Anstellung bei einem der privaten kroatischen Wachunternehmen, die derzeit bevorzugt aus dem Krieg zurückkehrende Soldaten einstellen. Er starb, weil er einer Familie helfen wollte, in ihre Wohnung zurückzukehren, aus der sie vorher gewaltsam hinausgeworfen worden war.

In den beiden größten Nachfolgestaaten der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ (SFRJ) werden derzeit Angehörige von Minderheiten gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. In Kroatien sind die Opfer – meist langjährige Mieter – Mitglieder der serbischen, in Serbien Angehörige der kroatischen Minderheit. Im südlichen Kroatien benötigt man laut Aussage des Präsidenten des „Dalmatischen Komitees für Menschenrechte“ (DCHR), Tonči Majić, für die Legalisierung einer so besetzten Wohnung derzeit etwa 4.000 Deutsche Mark Bestechungsgeld. Eine Anfrage bei dem zuständigen Ministerium in der Hauptstadt Zagreb ergibt, daß die staatlichen Stellen das Problem mit den Wohnungen erst gar nicht leugnen. Offiziell sind derzeit in Kroatien etwa 4.000 Wohnungen nicht in den Händen ihrer Mieter. Die Betroffenen stehen meist ohne persönliche Habe oder Papiere auf der Straße. Sie erhalten keinerlei Hilfe von der Obrigkeit. Die jeweiligen Polizeibehörden dulden den permanenten Hausfriedensbruch, da „man“ doch gegen die oftmals bewaffneten und psychisch angeknacksten Soldaten „nichts machen“ könne. In Belgrad etwa werden zur Zeit vor allem Kroaten aus ihren Wohnungen geworfen. Nichtserbische Journalisten, Schauspieler und Kaufleute, die in Titos ehemaliger Hauptstadt vor dem Krieg arbeitsbedingt eine Wohnung hatten, halten heute mit ihrem Mietvertrag ein wertloses Stück Papier in der Hand.

In Split wurden Hunderte von Telefonen für zwei Jahre aus dem Netz genommen. Offizielle Begründung der Post: „Leitungsprobleme“. 500 der Betroffenen waren Nichtkroaten. Nichtkroatischen ehemaligen Armeeangehörigen wird die Weiterzahlung ihrer Renten verweigert. Menschen weit über sechzig haben plötzlich keine Versorgung für den Lebensabend mehr. Die gesellschaftliche und politische Diskriminierung der nichtnationalen Minderheiten ist derzeit stillschweigende Politik aller Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien. In Sarajevo wurden im letzten Jahr ganze Einheiten der bosnischen Armee aufgelöst – betroffen davon waren vor allem bosno-kroatische und -serbische Soldaten. Nachdem sie sich monatelang an der Verteidigung Sarajevos beteiligt hatten, wurden sie fristlos entlassen. Kein Soldat kam auch nur auf die Idee, den vom bosnischen Militär einbehaltenen Sold zu fordern.

In Bosnien wurden in den letzten anderthalb Jahren rund zweihundert christliche Kirchen und sechshundert Moscheen systematisch zerstört. In Kroatien prägen Terroranschläge auf nichtserbischen Grundbesitz das Bild weitab der Front. In Serbien werden umgekehrt die Wohn- und Arbeitsräume Oppositioneller zu Zielen von Bombenanschlägen. Anwälte, die unter dem Banner der Menschenrechte die Angehörigen von Minderheiten verteidigen, erhalten Drohbriefe. Extreme Nationalisten sprengen ihre Kanzleien in die Luft.

Da durch den Krieg vor allem in der medizinischen Versorgung Engpässe auf allen Seiten bestehen, wird den jeweiligen Minderheiten die ärztliche Versorgung verweigert. Einem seit 1946 in Kroatien lebenden Albaner wurde Anfang 1993 zwangsweise seine langjährige Krebsbehandlung abgebrochen. Erst als er vier Monate später seine kroatische Staatsbürgerschaft erhielt, konnte die Behandlung fortgeführt werden.

Bisher drangen vor allem die Greuel aus den Massenvergewaltigungslagern oder von der unmittelbaren Front an die Öffentlichkeit. Tatsächlich wird seit geraumer Zeit im Hinterland der Kämpfe versucht, die „ethnische Säuberung“ an den Fronten mit bürokratischen Mitteln weiterzuführen. Matthias Neuner