„Wartet nicht! Tut es selbst!“

Irina Hakamada, Gründerin der Moskauer Waren-Börse und Vorstandsmitglied der „Partei der Ökonomischen Freiheit“, gilt als die reichste Frau Rußlands  ■ Von Barbara Kerneck

Die wenigen Politikerinnen, die in den letzten Jahren in Rußland Furore machten, lassen sich aus der Gärtnerinnenperspektive am ehesten mit üppig blühenden Pfingstrosen vergleichen. Wie eine einsame Lilie steht unter ihnen Irina Hakamada da. Die Siebenunddreißigjährige war bis Januar 1994 Generalsekretärin der kleinen, aber exklusiven „Partei der Ökonomischen Freiheit“ und ist heute Deputierte der Staatsduma. Ob ihre Partei die notwendige Unterschriftenzahl für die Beteiligung an den Wahlen Ende letzten Jahres nicht zusammenbekommen konnte oder ob sie dies gar nicht mehr wollte, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Die Hakamada jedenfalls kandidierte weiter – nunmehr ohne die Restpartei – und erfocht einen Deputiertensitz als unabhängige Kandidatin und mit einem eigenen Frauenprogramm. Ihren Rücktritt vom Generalsekretärsposten der Partei der Ökonomischen Freiheit – in deren Vorstand sie verblieb – begründete sie mit der Opposition gegen die Person Boris Jelzin in deren Reihen. Sie selbst erblickt vorerst keinen Alternativkandidaten zum gegenwärtigen russischen Präsidenten. Für die Öffentlichkeit trat die junge Politikerin mit diesem Schritt aus dem politischen Schatten des Parteigründers Konstantin Borowoj ins Freie.

„Wartet nicht. Tut es selbst!“ Nach diesem Motto gründeten die Hakamada und ihr einstiger Studienkamerad Borowoj 1988 die „Russische Waren- und Rohstoff- Börse“. Dabei wurde eine genial einfache Idee verwirklicht: Tausende Produzenten und potentielle Abnehmer bestimmter Waren wußten nach dem Zusammenbruch des bürokratischen Plansystems nicht mehr, wie sie einander finden sollten. Die „Waren- und Rohstoff-Börse“ nahm ihnen diese Sorge ab. In die Politik geriet sie in der Folge mehr oder weniger automatisch, wie in eine neue Filiale ihres Geschäftes.

Stilsicherheit und Sinn für Fairneß bezeichnet die in Moskau aufgewachsene Tochter eines japanischen kommunistischen Emigranten und einer Halbarmenierin als ihre wichtigsten Tugenden. Hinzu kommt ein in russischen Unternehmerkreisen reichlich seltener Sinn für Understatement. Besonders prompt aktiviert Irina diesen Sinn, wenn man sie – wieder einmal – als die „reichste Frau Rußlands“ bezeichnet. Im schleppenden Tonfall des Südens – sehr viel armenischer als japanisch – erklärt sie geduldig: „Nach wie vor sitze ich im strategischen Rat der Börse. Ansonsten beansprucht jetzt die Partei den Löwenanteil meiner Zeit. Um selbst reich zu werden, bleibt mir bei alledem keine Minute.“

Zweifel an dieser kaum glaubhaft scheinenden Äußerung räumt die Unternehmerin schnell aus: „Es heißt, wir horteten das Geld in Säcken, aber jeder Händler in einer Straßenbude ist hundertmal reicher als wir. Wenn man uns jedoch die Direktoren-Stelle in einem der Lebensmittelgeschäfte anböte, die die fettesten Pfründe in Moskau sind, dann würden wir sagen: nein, danke! Denn wir haben eine andere Mentalität.“

Was dies betrifft, so spielte bei der Gründung der „Russischen Waren- und Rohstoff-Börse“ auch das Talent zur Hochstapelei eine Rolle. Irina schrieb später in Moscow News: „Für die ersten Auktionen mieteten wir für jeweils drei Stunden Räume im Polytechnischen Museum, taten aber so, als seien dies unsere Geschäftsräume. Borowoj komponierte in den Nächten Verträge, und ich log den Kunden am Telefon vor, daß wir alle Dokumente schon fertig hätten. In jenen Anfangszeiten putzte ich selbst das Büro und servierte ausländischen Gästen Tee – wir sparten an allem. Der typische sowjetische Spießer dagegen empfindet es als Erniedrigung, irgendeine Arbeit zu verrichten, die in seinen Augen nicht prestigeträchtig ist.“

Von solchen Husarenstückchen hätte Irina Hakamada nicht einmal geträumt, als sie mit Anfang zwanzig ihr Studium abbrach und als Nachtwächterin und Programmiererin jobbte. Der Grund für ihre damalige Umorientierung: eine Studentenehe, die ihr gleich zwei Kinder einbrachte, einen eigenen und einen angenommenen Sohn. Als die Kleinen aus dem Gröbsten heraus waren, holte Mutter schnell auf und hatte mit dreißig eine Dozentenstelle für Ökonomie. „Aber statt glücklich und zufrieden zu sein, versank ich in einer gewaltigen Depression“, erinnerte sie sich. „Ich begriff, daß dies alles überhaupt niemandem nützte, weder mir noch der Gesellschaft, noch meinen Kindern.“ Kaum war 1988 das „Gesetz über die Kooperativen“ publiziert worden, faßte auch die Hakamada einen Beschluß: „Ich sagte mir: jetzt reicht's. Jetzt haben wir die Gelegenheit, unabhängig vom Staatsdienst selbst etwas anzufangen. Die Gründung der Börse war die zweite große Wende, bei der ich im Prinzip mit der Gesellschaft brach und eine marginale Existenz begann.“

Die Kollegen im Institut bemitleideten die Jungunternehmerin jedoch, und ihre Eltern waren entsetzt: „Tatsächlich paßten wir in keine der damals bestehenden paternalistischen Strukturen. Wir hatten keine Beschützer.“ Hakamadas dritte Wende begann 1991, als sie in die Politik ging. Die Börsengründer hatten sich inzwischen zwar zu einer Finanzgruppe gemausert, mit Stiftungen, Banken und Handelshäusern. Aber noch immer berücksichtigte niemand die Interessen der Unternehmer, obwohl diese doch eigentlich die soziale Basis für die Zukunft des russischen Kapitalismus bilden sollten.

Die „Partei der Ökonomischen Freiheit“ tritt, wie ihr Name sagt, für eine maximale Liberalisierung der Wirtschaft in Rußland ein. Dank der Originalität der Leute an ihrer Spitze hat sie ein großes Echo in den Medien. Mit Schlagfertigkeit und souveränem Witz führt vor allem Konstantin Borowoj einen vehementen Kampf gegen den postsowjetischen Wirtschaftsfilz, in dem die Beamten fetter werden als alle Unternehmer. Trotzdem haftet seiner Partei in der russischen Öffentlichkeit der Ruf an, sie propagiere einen „Liberalismus für Reiche“. Irina Hakamada will das Problem nicht verdrängen: „Die Hauptaufgabe unserer Gesellschaft besteht jetzt darin, die Einführung der Marktwirtschaft mit bestimmten sozialen Programmen zu vereinbaren.“ Den Schlüssel dabei sieht sie im Verhältnis des russischen Staates zu den Frauen. Mit der Losung der absoluten Gleichheit, so erklärte die frischgebackene Deputierte kürzlich der Zeitung Moskowski Komsomoljez, sei bei denen kein Blumentopf zu gewinnen.

Die „Scheinemanzipation“ unter kommunistischem Vorzeichen habe ihnen vor allem das Recht gebracht, körperlich genauso hart arbeiten zu müssen wie die Männer. „Wozu hat das geführt?“ fragt Irina rhetorisch und fährt fort: „Bei uns sind heute 80 Prozent der Kinder krank. Die Frauen haben keine Zeit für ihre Familie, kein Geld und treffen auf furchtbare Zustände in den Kindergärten... Uns droht eine große Arbeitslosigkeit. 80 Prozent der Arbeitslosen werden Frauen sein.“ Den Ausweg sieht sie im Erziehungsgehalt – gleichermaßen für Verheiratete und Unverheiratete: „Wenn die Frauen für die Kindererziehung nicht irgendwelche Brosamen in Form von Zuschüssen bekämen, sondern ein richtiges Gehalt, dann könnten wir gewaltige Summen an Arbeitslosenunterstützung und im Gesundheitswesen sparen.“

Die Hakamada begreift dieses Konzept als kompensatorisch. Zur Unterstützung weiblicher Kleinunternehmen hat sie, ganz unabhängig davon, schon eine eigene Stiftung geschaffen. Die Unternehmerin, die selbst den Anspruch erhebt, eine „partnerschaftliche“ Ehe zu führen, behandelt die Förderung von Hausfrauen und Müttern einerseits und die Förderung weiblicher Berufskarrieren andererseits als völlig verschiedene Dinge. Die „kleine Frau von der Straße“ dürfte dies vorerst genauso sehen.

Um den Teufelskreis von staatlicher Unterstützung für die wachsende Zahl der Armen, erneutes Ausspucken von immer mehr Rubelscheinchen zu diesem Zweck durch die staatliche Druckerpresse und wachsender Inflation zu stoppen, möchte Hakamada die Betriebe wieder in die Pflicht nehmen. Nach ihrem Modell sollen auf der Ebene des kommunalen Großverwaltungsbezirkes, des Okrug, Behörden, Unternehmen und Bürgerinitiativen Hand in Hand arbeiten: „weil in ihrem Bezirk alle, wie in einem großen Dorf, einander kennen und wissen, wer wirklich Hilfe braucht“.

Die hohen Gewinnsteuern (bis zu 80 Prozent), die heute jegliche unternehmerische Initiative ersticken, will die „Partei der Ökonomischen Freiheit“ sowieso gemildert sehen. Dem Hakamadaschen Modell zufolge sollen sie aber noch weiter für solche Betriebe gesenkt werden, die Kindergärten, Rehabilitations- oder Umschulungszentren errichten: „Das Helfen muß bei uns vorteilhaft werden.“

Irina Hakamada betont gern, daß dieses Konzept von ihr ganz persönlich ausgeheckt worden ist. Überhaupt meint sie, daß zur Lösung zahlreicher Probleme eine Stärkung des „weiblichen Ansatzes“ in der Politik erforderlich sei. „Bei uns in Rußland glaubt jetzt jeder dritte Mann, daß er Präsident werden wird, oder hofft zumindest, daß die anderen glauben, daß er es wird. Frauen dagegen sind imstande, um eines Zieles oder einer Sache willen zu arbeiten. Dafür ist eine Frau sogar bereit, ihr Image zu opfern.“

Und ihr eigenes „Image“? Dreimal in der Woche rackert die Politikerin dafür beim Aerobic. Natürlich passen die schwarzlackierten Möbel in ihrem Büro und das Parteiemblem zu ihrer asiatisch angehauchten Frisur und zur schlichten Designerkleidung von Slawa Saizew. Was allerdings das eigene Ansehen bei männlichen Politikern und Geschäftspartnern betrifft, so meint Irina, daß ihr da ein graues Schneiderkostüm und ein Dutt besser bekämen: „Nach deren Meinung kann eine Frau entweder gute Arbeit leisten und klug sein oder attraktiv aussehen. Beides zugleich geht nicht.“

Natürlich möchte Irina Hakamada nicht nur ihrer Effektivität wegen geschätzt werden. Einem Beleidiger versucht sie nach eigener Aussage, stets „würdig“ zu antworten: „mit einer gleichwertigen Beleidigung“. Als ihr fünfzehnjähriger Sohn Danja neulich in der Schule von einem älteren Jungen wegen seiner „Schlitzaugen“ belästigt wurde, beschwor sie ihn, nicht zu petzen. Statt dessen brachte sie ihm – mit durchschlagendem Erfolg – einen Karate-Trick bei. Danja, so hofft seine Mutter, wird schon einer „innerlich freien“ Generation angehören. „Wir Erwachsenen müssen noch, wie Tschechow gesagt hat: den Sklaven tröpfchenweise aus uns herauspressen.“

Für ihre eigene Zukunft wünscht sich die Hakamada „professionelle Lösungen, mit deren Hilfe wir Rußland vom toten Punkt fortbewegen könnten. Irgendwo in meinem Inneren“, schwört sie, „sind die Küchengespräche noch lebendig, die ich mit Konstantin Borowoj, seiner Frau und unseren Freunden geführt habe, bevor wir unsere erste Kooperative gründeten. Und wir verlieren nicht die Hoffnung, etwas Zivilisierteres zu schaffen, als jene Banditen es je könnten, für die man uns immer hält.“