Zugleich bremsen und Gas geben

Die französische Regierung reagiert mit widersprüchlichen Maßnahmen auf die Wirtschaftskrise / Die Arbeitslosigkeit steigt weiter  ■ Von Nicola Liebert

Eisernen Sparwillen demonstrierte Edouard Balladur gleich, als er vor einem knappen Jahr ins Amt gewählt worden war: Der neue Premier mit den berühmten handgewirkten kardinalroten Socken bestand darauf, die paar hundert Meter von seinem Amtssitz Matignon bis zur Nationalversammlung zu Fuß zurückzulegen. Sein Dienstwagen samt Diensttelefon fuhr langsam hinterher, daneben ein Troß aus Leibwächtern und nervösen Polizisten.

Sicher, die Sparsamkeitsdemo war teurer als eine normale Fahrt zum Parlament. Aber was zählte, war der psychologische Effekt. Solche Effekte zu nutzen, das scheint der Konservative exzellent zu beherrschen. Kaum einer seiner Vorgänger hat sich je so großer Anerkennung im Volk erfreut, schon gar nicht mitten in einer Krise, die alles übersteigt, womit die Franzosen seit dem Krieg fertig werden mußten.

Für Frankreich war 1993 ein annus horribilis. Bis Oktober brach die Industrieproduktion um fast fünf Prozent ein, stärker als in jedem anderen wichtigen Industrieland. 350.000 Menschen verloren ihren Job, die Arbeitslosenrate kletterte von 10,7 auf 12 Prozent. 300 Milliarden Franc (100 Mrd. Mark), doppelt soviel wie im Vorjahr, fehlten dem Staat: das ist die Bilanz von Balladurs erstem Amtsjahr. Noch ein gutes Jahr hat er Zeit, das Ruder herumzuwerfen, dann wird neu gewählt.

Höchstens psychologische Wirkung dürfte Balladurs neueste Initiative zur Schaffung von Arbeitsplätzen zeitigen. Mit 5.000 Franc (1.500 Mark) wird belohnt, wer sein mindestens zehn Jahre altes Auto verschrottet und dafür einen Neuwagen kauft. (So fixiert ist die Regierung auf Arbeitsplätze, daß es ihr gar nicht in den Sinn kam, die staatlichen Zuschüsse etwa auf schadstoffarme und bezinsparende Modelle zu begrenzen.)

Etwa ein Zehntel der französischen Arbeitsplätze hängt von der Automobilbranche ab. Aber selbst optimistische Berechnungen gehen davon aus, daß der Staatszuschuß allenfalls sieben bis acht Prozent an zusätzlichen Neuzulassungen einbringt. Im vergangenen Jahr schrumpfte die Autoproduktion aber um fast 15 Prozent. Zusätzliche Arbeitsplätze werden also durch diese künstliche Nachfragebelebung keinesfalls entstehen.

Die Gewerkschaften kritisierten prompt, daß sich die private Nachfrage wohl kaum erholen könne, wenn halb Frankreich arbeitslos sei. „Nur durch Fortschritte bei der Schaffung von Arbeitsplätzen wird die Regierung den Verbrauch ankurbeln können; schwerlich umgekehrt“, wetterte ein Gewerkschaftsführer. Mit seinen Rezeptchen möchte Balladur wohl auch in erster Linie erreichen, daß die Franzosen eben glauben sollen, es wende sich alles zum Besseren. Unbeschwert sollen sie konsumieren und so die gähnend leeren Auftragsbücher ihrer Industrie füllen.

Die Verbraucher müssen ran, weil die Regierung kaum bewegungsfähig ist. Sie steckt in einer Zwangsjacke namens Staatsverschuldung. In diesem Dilemma – einerseits sind mehr Ausgaben nötig, um die Wirtschaft zu beleben, andererseits sind Einsparungen unerläßlich, um das Loch im Staatssäckel zu flicken – folgt Balladur einem Schlingerkurs.

Erst ein bißchen sparen; so wurden die Zuschüsse für das Gesundheitssystem gesenkt und die Abgaben zur Sozialversicherung sowie die Benzin- und Alkoholsteuern erhöht. Dann ein bißchen austeilen: Entgegen allen Versprechen, den defizitären Staatshaushalt zu sanieren, nahm Balladur eine gigantische Anleihe auf, um der Bauindustrie und den mittelständischen Unternehmen Geld zuzustecken. Dann wieder bremsen, indem die Zentralregierung den Gemeinden die Zuschüsse kürzte, weshalb diese die kommunalen Steuern um bis zu 50 Prozent erhöhten. Und anschließend Gas geben: Demnächst sollen niedrigere Einkommensteuern den Konsum heben.

Noch mehr ausgeben kann Balladur nicht, er hat es ohnehin schon geschafft, das Haushaltsdefizit zu verdoppeln. Harte Schnitte sind aber auch nicht möglich wegen der Militanz, die die französische Arbeiterschaft gern unter Beweis stellt. Zum Beispiel die streikenden Air-France-Arbeiter, die die für die Sanierung des Staatskonzerns notwendigen Entlassungen erst einmal verhinderten. Auch die bretonischen Fischer erkämpften sich mit Brachialmethoden zusätzliches Geld.

Auch den Arbeitgebern, die die Abschaffung des gesetzlich garantierten Mindestlohns (umgerechnet 1.700 Mark) fordern mit der Begründung, sie würden ja mehr Leute einstellen, wenn sie denen nur weniger zahlen bräuchten, kann der durchaus industriefreundliche Balladur nicht zu Willen sein. „Ich will nicht die Verantwortung dafür übernehmen, unter dem Vorwand der Krisenbekämpfung das System der sozialen Absicherung in unserem Land zu zerstören“, erklärte der Premierminister, der ja vielleicht nächstes Jahr Präsident werden möchte. Immerhin kann er darauf verweisen, daß in den letzten Monaten die Wachstumskurve ganz sacht aufwärts weist. Gar 1,5 Prozent Wachstum erhoffe er in diesem Jahr, ließ er gestern verlauten. Aber am eigentlichen Problem, der enormen Arbeitslosigkeit, wird sich durch einen so sanften Aufschwung, selbst wenn er tatsächlich eintreten sollte, nichts ändern. Eher dürfte der Anfang November verkündete Schritt zur 32-Stunden-Woche etwas bewegen. Auch hier will der Staat noch ein paar Francs springen lassen, wenn die Betriebe dann tatsächlich neue Arbeitskräfte einstellen. Schon vor der endgültigen Verabschiedung des Gesetzes haben manche Unternehmen, etwa der staatliche Elektrizitätskonzern EdF, mit ihren Arbeitnehmern eine Arbeitszeitverkürzung ohne jeden Lohnausgleich vereinbart und dafür die Neubesetzung freiwerdender Stellen versprochen.

Viele französische Wirtschaftswissenschaftler fordern eine ganz andere Politik: Die Zinsen sollen runter. Als Frankreich allerdings letzten Sommer versucht hatte, erstmals allein, ohne „la Buba“, die deutsche Bundesbank, die Zinsen zu senken, war das Resultat der totale Absturz des Franc-Kurses und der Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems (EWS). Le Franc fort, eine starke Währung, gehört aber zu den sakrosankten Fundamenten französischer Politik. Wenigstens hier war Balladur ein Erfolg vergönnt: Seit Dezember befindet sich der französische Franc wieder in der alten Wechselkursbandbreite gegenüber der D-Mark.

Viele Franzosen schielen neidvoll auf Italien und Großbritannien, die beide die Rezession überwunden zu haben scheinen. Beide sind aus dem EWS einfach ausgetreten und machen seither ihre eigene Geldpolitik. Die französische Regierung jedoch fühlt sich der europäischen Einheit verpflichtet. Im Gegenzug, so plädieren zahlreiche französische Wirtschaftsexperten, soll dann die Union etwas für die Arbeitslosen tun. Zufällig hat auch der EU-Kommissions-Präsident Jacques Delors, der zwar hauptamtlich Europäer, aber nebenberuflich eben auch Franzose mit politischen Ambitionen ist, in seinem Weißbuch just ein solches europäisches Investitionsprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgeschlagen.