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SanssouciVorschlag

■ Ryszard Kapuscinski liest im Berliner Ensemble

Als 1979 Kapusćinśki seinen „Cesarz“, zu deutsch „König der Könige“, erscheinen ließ, eine Reportage über den Fall des allmächtigen äthiopischen Kaisers Haile Selassi, war das realsozialistische Regime in Polen in seine bislang schwerste Krise gestürzt. Drei Jahre später, Solidarność war verboten und das Kriegsrecht proklamiert, dechiffrierten Autoren der polnischen Untergrundpresse den „Cesarz“ als Abrechnung mit dem polnischen Kommunismus – und das mit Recht. Die stickige, von keinem Luftzug der Wirklichkeit durchzogene Atmosphäre des Palasts, die Intrigen der verschiedenen Hofkamarilla-Fraktionen, der jähe Sturz von der Allmacht in die Ohnmacht – alles Attribute der sich zersetzenden Herrschaft. Kapusćinśki war damals schon zwanzig Jahre in der Dritten Welt, vor allem in Afrika und Lateinamerika unterwegs gewesen, ein gefeierter Reporter, unideologisch, ohne jede „tiersmondistische“ Attitude, ohne jedes billige Mitleid, voller Mitgefühl. Ein Präzeptor, der den Blick der oft so eurozentristischen Polen auf die Welt weitete.

Mit Rußland stößt 1939 der damals Siebenjährige in dem heute zu Belarus gehörenden Pinsk zusammen, als die sowjetische Armee ihren Teil der Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt einkassiert. Nächtliche Verhaftungen, Massendeportationen, allgegenwärtige Angst – die ersten, nie vergessenen Erlebnisse. Zwei weitere Male besucht Kapusćinśki „das Imperium“. 1958, als er mit der Transsib unterwegs ist, und 1967, zu Besuch in den transkaukasischen und zentralasiatischen Sowjetrepubliken. 1989 startet er seine dritte Erkundungsfahrt, die ihn in mehrfach unterbrochenen Etappen bis 1991 durch Moskau, durch Sibirien an die Stätten des namenlosen Grauens, durch den Transkaukasus im Bürgerkrieg, durchs östliche Galizien schließlich in seine Heimatstadt Pinsk führt. Kapusćinśki spricht hauptsächlich mit Schriftstellern, Künstlern und „einfachen Leuten“. Die Heroen des politischen Umbruchs figurieren nur am Rande.

Sein Urteil über die Zukunft Rußlands und der Nachfolgestaaten des Imperiums ist tief pessimistisch. Überall sieht er in demokratischer Kostümierung den alten sowjetischen Adam, und überall spürt er die zerstörerischen Kräfte des neuen Nationalismus. Eine deprimierende, eine aufregende Lektüre. Christian Semler

Heute, 20 Uhr, BE, Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte.

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