Der gute Mensch von Endora

■ Viel zu ruhig: „What's eating Gilbert Grape?“ von Lasse Hallström im Panorama

Gilbert Grape ist ein lieber Kerl und ein guter Mensch — und weil Johnny Depp ihn spielt, sieht er auch genauso aus. Gilbert lebt in Endora, einem Fliegenschiß auf der Landkarte von Iowa. In dem Provinznest scheint die Zeit stillzustehen. „Hier zu leben“, sagt Gilbert, „ist, wie zu keiner Musik zu tanzen.“ Gilbert hat wenig Spaß am Leben. Er wohnt zusammen mit seinen beiden Schwestern, seinem geistig zurückgebliebenen Bruder Arnie, den er liebevoll betreut, und seiner Mutter in einem arg heruntergekommenem Haus. Vor sieben Jahren hat sich der Vater im Keller der Bruchbude erhängt, seitdem hat die Mutter das Haus nicht mehr verlassen und ist in ihrem Trennungsschmerz verfettet. Inzwischen wiegt sie monströse 500 Pfund, und Gilbert muß zusätzliche Stützbalken anbringen, damit sie nicht durch den Wohnzimmerboden bricht. Überhaupt kümmert er sich aufopfernd und selbstlos nicht nur um die Familie. Seinen Arbeitgeber Mr. Lamson baut er regelmäßig wieder auf, indem er ihm versichert, die Kunden würden schon in seinen Gemischtwarenladen zurückkommen, das neue Einkaufszentrum würden sie bald satt haben. Gilbert Grape lebt nicht sein eigenes Leben, sondern hilft den anderen zu überleben. Sogar ein selbstbestimmtes Sexleben hat er nicht, sondern läßt sich statt dessen hin und wieder von einer frustrierten Ehefrau verführen.

Es ist also nicht zu übersehen, was Gilbert Grape da ganz allmählich auffrißt. Erlösung kommt in Gestalt von Becky (Juliette Lewis) die mit ihrer Großmutter einen Zwangsaufenthalt in Endora einlegt, weil ihr Wohnmobil eine Panne hat. Gilbert verliebt sich sich, vernachlässigt seine „Pflichten“, lernt für sich selber Verantwortung zu übernehmen, öffnet sich, wacht auf. Als er Becky von seinem Vater erzählt, der nie lachte oder weinte, sondern „einfach nur da war“, schaut Becky ihn an und antwortet: „Ich kannte auch so einen Menschen.“

Der zweite Film des Schweden Lasse Hallström (nach „Ein charmantes Ekel“) erzählt eine nette, kleine Geschichte, die niemandem wehtut. Langsam und ruhig, aber nicht ohne Witz, wird der Alltag der kleinen Leute betrachtet. Dabei gehen die Witze jedoch nie auf Kosten der Menschen. Arnies Behinderung wird ebenso selbstverständlich integriert wie das groteske Übergewicht der Mutter. Sie wird nicht als Freak oder tragikomische Figur vorgeführt, sondern einfach nur als Mensch, in seiner eigenen Falle gefangen.

Ein paar laute Töne zwischen all diesen leisen hätten dem Film wohl nicht geschadet. So geht selbst Gilberts Ausbruchversuch aus seiner verfahrenen Situation im gleichen getragenen Rhythmus vonstatten wie sein bisheriges Leben. Er schlägt nicht mit der Faust auf den Tisch und haut einfach ab, um endlich zu leben, sondern wartet geduldig ab, bis alles geregelt ist, alle versorgt sind, um in einem wunderschönen Happy-end mit seiner Geliebten den Kleinstadtmief hinter sich zu lassen. Johnny Depp als guter Mensch von Endora ist einfach zu gut, um wahr zu sein. Karl Wegmann

Lasse Hallström: „What's eating Gilbert Grape?“, mit Johnny Depp, Juliette Lewis, Leonardo DiCaprio u. A.; USA 1993; 117 Min. 18.2. International 17.00 Uhr.