In der Macht der Fliehkräfte

Die gar nicht lustige Schlittenfahrt: Auf ihrem rasenden Gefährt will Susi Erdmann heute Olympiasiegerin im Rodeln werden  ■ Aus Hunderfossen Cornelia Heim

„Schön flach liegenbleiben, dann klappt's schon.“ Bundestrainer Sepp Lenz steht mit Krücken an der Bob- und Rodelbahn in Hunderfossen. Irgendwo an dem 1.365 Meter langen Bandwurm funkt er die letzten Kommandos hinauf ins Starthäuschen, wo Susi Erdmann auf ihren zweiten Lauf wartet. Die Olympia-Dritte von Albertville, die damals vorab von den Medien mit Gold behängt wurde und dann gestand, „den ganzen Rummel“ nicht verkraftet zu haben, ist nervös.

„Susi Sorglos“, die ihre ersten Olympischen Spiele 1988 wegen „mangelnder Ernsthaftigkeit“ (so die damalige DDR-Sportführung) verpaßte, hat sich auf der neu gebauten Bahn in Hunderfossen durch Trainingsbestzeiten wieder in den Favoritenkreis gefahren. Trotz einer verkorksten Saison, in der die Rodelpartie zur einzigen Suche nach der Form wurde. Sepp Lenz schüttelt den Kopf und schmunzelt: „Verrückt, daß sie ausgerechnet hier in Form kommt.“

Es geht los. Mit Pinguinschlägen schuckt Susi Erdmann ihr Gefährt energisch an. Ab in die eisige Röhre. Ihr Bolide auf Kufen kommt in Fahrt. Äußerlich unterscheiden sich die etwa 1,30 Meter langen und höchstens 23 Kilo schweren Rennschlitten nur farblich. Aufs Innenleben kommt's an, und das hat Schlittenbauer Gerhard Kirchner gewaltig verändert: „Besonders in den Kufen.“ Wie, ist klar, bleibt sein Berufsgeheimnis. Dem Zuschauer bleibt gerade einmal eine Kopfdrehung Zeit zu überlegen, wer denn da wohl mit wem Schlitten fährt – das Gerät mit der Athletin oder umgekehrt?

Umgekehrt natürlich, sagt der 58jährige Bundestrainer mit seiner 27jährigen Trainererfahrung. Im mit Tonnen von Ammoniak eisgekühlten Kanal flitzt Susi Erdmann etwa 27 Meter in einer Sekunde. Wo am Schluß Tausendstel über Gut oder Schlecht entscheiden, zählt jeder Zentimeter, den der Außenstehende mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen vermag.

„Schön flach“ liegt Susi Erdmann auf ihrem unbequemen Vehikel. Nach 250 Metern ist sie bereits so schnell, daß sie im Stadtverkehr ihren Führerschein los wäre – 80 Stundenkilometer. Unterwegs wird sie allein durch die 112 Meter Gefälle hoch auf 120 Sachen gedreht. Ob sie will oder nicht. Sie will natürlich. Das ist zwar wagemutig, sieht aber auf Anhieb für den Außenstehenden nicht unbedingt nach Arbeit aus. Sepp Lenz lacht lauthals: „Rodeln ist Leistungssport. Wer eine Medaille machen will, muß ihn professionell betreiben.“ Das wissen wir. Deshalb hat sich Susi Erdmann ja auch als Soldatin bei der Bundeswehr verpflichtet: „Um mich voll auf den Sport konzentrieren zu können und gleichzeitig sozial abgesichert zu sein.“

Aber wo ist der Sport auf der Strecke? Sepp Lenz: „Das fängt mit dem Start an.“ Um wie die Pinguine die ersten vier Sekunden flugs watscheln zu können, werden Arm- und Rückenmuskulatur im Kraftraum heftig malträtiert. „Dabei kann man viel kaputt machen, Sehnen oder Knochen beim zu starken Muskelaufbau schädigen.“

Susi Erdmann trainiert oft im Trainingsstudio in Berchtesgaden. Den Start übt sie schon mal auf dem Trockenen sitzend, auf der Tartanbahn ihres Wohnortes Alt- Öttingen. Dabei befindet sie sich in einem Schlitten auf Rädern. Ihr Freund, der Bobfahrer Christoph Langen, spielt den Schlittenhund. Aber genauso oft begibt sie sich auf die Massagebank. „Die Kopfhaltung ist ihr größtes Defizit“, kritisiert der Bundestrainer, „sie müßte ihn weiter zurücknehmen.“ Leicht gesagt, wenn die Fliehkräfte in den Kurven einem den Schädel abzureißen scheinen. Insgesamt 13mal wirkt das Sechsfache des Körpergewichts auf das hin- und herwackelnde Haupt. Die 1,84 Meter große Athletin bringt 73 Kilo auf die Waage, macht rund 420 Kilo, die an ihrem Kopf zerren.

Wer schon vom bloßen Zuschauen Kopfschmerzen bekommt, sei getröstet, Susi Erdmanns Nackenmuskulatur wird ständig physiotherapeutisch behandelt. Sepp Lenz: „Außerdem haben wir ein Nackengerät, in das sie sich während des Trockentrainings legt.“ Spezifische Muskulatur ist das eine. Das andere: „Eine Rodlerin muß voll durchtrainiert sein.“ Um die Körperspannung halten zu können, werden mittels isometrischer Übungen Bauch und Rücken an statische Haltekraft gewöhnt.

Susi Erdmann schießt übers Ziel. Seit 110 Jahren wird leistungsmäßig gerodelt. In Innsbruck vor 30 Jahren erst hat die Disziplin Eingang ins olympische Programm gefunden. 400mal ist die 25jährige in dieser Saison bereits trainingshalber eine Bahn hinuntergerast. In Hunderfossen lag sie nach zwei Läufen, allerdings mit klaren 25 Hundertstelsekunden Rückstand hinter der Italienerin Gerda Weißensteiner, auf Platz zwei.

Heute vormittag wird dann zwei und zwei zusammengezählt. Und sollte, so wär's der gebürtigen Thüringerin am liebsten, eins ergeben. „Das Gold vom Schorsch ist mir Ansporn genug.“