„Rußlands Diplomatie hat sich verirrt“

Seitdem die Nato Bosniens Serben ein Ultimatum gestellt hat, bringt die russische Außenpolitik immer neue Stellungnahmen hervor: Moskau will in der Weltpolitik mitmischen  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Moskaus Haltung zum Ultimatum, das die Nato den Serben für den Abzug ihrer schweren Waffen aus Sarajevo gestellt hat, durchläuft mikroskopische Wandlungen. Sie lassen auf eine Ratlosigkeit der Außenpolitik schließen, die wohl kaum größer sein könnte. Sprach die russische Diplomatie vor kurzem noch von einem grundsätzlichen Veto, das sie im UN-Sicherheitsrat gegen eine Bombardierung serbischer Stellungen einbringen wolle, scheint sie jetzt eher darum bemüht zu sein, sich interpretatorische Rückzugsmöglichkeiten zu erschließen.

Am Sonnabend vergangener Woche wich als erster Außenminister Andrej Kosyrew von der bisherigen Linie ab. Einen Luftangriff werde Rußland nur nach Zustimmung durch die UNO dulden. Beim Besuch des englischen Premiers Major in Moskau erklärte dann Präsident Jelzin: Rußland darf nicht aus der Bosniendebatte ausgeschlossen werden. Der Sprecher des Präsidenten nahm dagegen härtere Worte in den Mund: „Luftangriffe auf serbische Stellungen werden als Werk der USA betrachtet und könnten Partnerschaftspläne zwischen der Allianz und den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes gefährden.“

Diese Nuancen in der Bewertung des Ultimatums offenbaren zweierlei: Rußland will auf keinen Fall in der Bosnienfrage beiseite stehen. Zumal es jüngst aggressiv darum ringt, die Rolle der zweiten Supermacht wieder einnehmen zu können. Andererseits hat die russische Diplomatie zur Zeit kein Faustpfand in der Hand, um ihrer Position größeres Gewicht zu verleihen. Sie trug die vorangegangenen Resolutionen der UNO mit, ohne ein Veto einzulegen.

Anfangs wurde der Jugoslawienkonflikt in Moskau gar nicht richtig ernst genommen. Erst in den letzten anderthalb Jahren entwickelte er sich zum Seismographen innenpolitischer Machtverhältnisse. Trug die offizielle Außenpolitik die Linie des Westens weitestgehend mit, strebten Nationalisten und Kommunisten danach, über den Konflikt Profil zu gewinnen. Die Serben – und ihr „Schicksal“ – boten sich als Parallele zu Rußland an. Beides sind Völker, die über ihre Nachbarn Hegemonie ausübten. Der Zusammenbruch der UdSSR stürzte die rot-braunen Gralshüter in eine Identitätskrise und setzte Bedrohungsängste frei. Den Großserben ging es ähnlich.

In Moskau bediente man sich bekannter Argumente, um Serbien zu unterstützen. Sie seien ein slawisches Brudervolk. Nun gehören aber auch die Kroaten der slawischen Familie an. Das konnte es also nicht sein. Seither bestimmten ideologiegeschwängerte Emotionen die Debatte. Weder wirtschaftliche noch irgendwelche ernsthaften politischen Interessen verbinden Moskau mit Belgrad.

Das gute Abschneiden der Nationalisten und Kommunisten bewirkte einen Schwenk der russischen Außenpolitik. Kosyrew betonte zunehmend die „nationalen Interessen Rußlands“ und verließ den Kurs des „Atlantikers“. Die Außenpolitik gab den inneren Verwerfungen nach. Es schien möglich, daß Jelzin bis an den Rand eines diplomatischen Konfliktes mit dem Westen geht, um seine Position nach innen zu stärken. Nur muß hier die Grenze im Auge bleiben. Er steht vor der schwierigen Aufgabe, einen Bruch mit den bisherigen – wie er sie nennt – „Verbündeten“ zu vermeiden und innenpolitisch sein Gesicht zu wahren.

Die Debatte über Bosnien machte aber auch deutlich, wie weit die Reformer bereit sind, Ultranationalist Schirinowski und seinen Beschwörungen der serbisch-russischen Brüderschaft keine neue Munition zu liefern. So sprach sich auch der Vorsitzende des Ausschusses für Innere Angelegenheiten der Staatsduma, Wladimir Lukin, gegen einen Luftangriff aus. Sergej Schachrai, Chef der reformerischen Pres-Partei, ließ sich zu unglaublichen Aussagen hinreißen: Ein Schlag gegen die bosnischen Serben könne den Beginn eines dritten Weltkrieges bedeuten. In der Fraktion der „Wahl Rußlands“ des zurückgetretenen Vizepremiers Gaidar herrscht keine einhellige Haltung vor.

Die Zeitung Iswestija fragte angesichts der Schachraischen Position konsterniert, ob man das eigene Volk einem Nuklearschlag aussetzen wolle, damit der Führer der bosnischen Serben Karadžić und seine Soldaten in aller Ruhe Sarajevo einnehmen können? „Die russische Diplomatie hat sich tatsächlich verirrt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man im letzten Moment noch begreift, mit der Unterstützung der Serben ziemlich weit gegangen zu sein, und das allein aus Interessen des innenpolitischen Machtkampfes“, resümierte Rußlands einflußreichster Fersehkommentator Kisselkow.