Eine Amerikanerin in Berlin

Bei meinen Ausflügen in den Ostteil der Stadt bin ich auf eine wirklich wundersame Erfindung gestoßen: die dreidimensionale Fassade. Weit überzeugender als zwei Dimensionen, billiger und einfacher zu errichten als richtige Gebäude, hat sie in Berlin eine ganze Reihe Probleme gelöst, und ich werde sie bei meiner Rückkehr dem neuen New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani ans Herz legen. Als ich zum Beispiel die alte Synagoge im Osten besuchte, las ich draußen auf einer Tafel, daß das Gebäude vor 100 Jahren errichtet und während der „Kristallnacht“ zerstört wurde. Die wiederaufgebaute Fassade ist der Jüdischen Gemeinde Berlins gewidmet. Die Fassade wohlgemerkt, nicht das Gebäude. Es gibt gar kein Gebäude. Ich habe bei den Polizisten nachgefragt, die die Illusion bewachen. Wenn einem also das Geld oder die Zeit fehlen, um ein richtiges Gebäude zu bauen, dann kann man sein Ziel auch mit einem virtuellen erreichen.

Ebenso beeindruckt war ich von dem Leinwandschloß, das mit seinen flatternden Säulen und Höfen aus dem 18. Jahrhundert Berlin zur Zeit blendet. Amerika, das uns die Phantasien Hollywoods, Disneylands und der Herren Reagan und Bush bescherte, hat – zum Beispiel zur Beschaffung mangelnden Büroraums – bisher denn doch noch nicht gewagt, Gerüste in Schloßgröße zu errichten, verhängt mit der gemalten Abbildung eines Gebäudes, das es gar nicht mehr gibt. Aber ich finde die Idee herrlich. Viele Probleme ließen sich so lösen. Wenn sich die Berliner durch Ausländer, zuziehende Firmen und die umgezogene Regierung in die Enge gedrängt fühlen, sollte man einfach eine Leinwand mit dem Grand Canyon aushängen. Gleich würden alle freier atmen. Rückt ihnen die Rezession zu sehr auf den Pelz, wird eine Ansicht von Calcutta oder der Süd-Bronx ausgehängt, und der Vergleich stimmt alle sogleich viel fröhlicher. Ja, ich werde New Yorks Giuliani sogar empfehlen, über die Süd-Bronx eine Leinwand von Berlin zu hängen, so daß die New Yorker wenigstens noch den Anschein einer Wirtschaft haben. Die Vorteile dieser Methode werden Giuliani einleuchten. Während seiner kurzen Amtszeit hat er bereits eine Vorliebe für Fassaden an den Tag gelegt.

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Leser dieser Spalte werden sich vermutlich fragen, wie es mit dem Schauspieler weitergeht, der mir, wie gestern beschrieben, im Frühstücksraum meines Hotels jede Beachtung verweigerte. Folgendes werde ich tun: Ich werde als blinder Passagier nach Polen fliegen, mir einen Teil des Schwarzmarkts unter den Nagel reißen, ungeheuer reich werden, ihm all mein Geld vermachen, meinen Tod bekanntgeben lassen und ihn zum Begräbnis einladen. Und wenn er kommt (und das wird er sich wohl kaum entgehen lassen!), wird die Polizei glauben, er habe mich wegen des Geldes umgebracht. Sobald er dann in einem polnischen Gefängnis sein Lebenslänglich absitzt, dürfte es nicht allzu schwer sein, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Ganz schön schlau, wie?

Stammt aber nicht von mir. Die Idee ist aus Krysztof Kieslowskis „Weiß“, dem zweiten Film seiner blau-weiß- roten Trilogie, nach den drei Farben der französischen Flagge und über die drei Prinzipien des französischen Staates: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Sagt jedenfalls die Werbung. Dieser Film soll das zweite Prinzip untersuchen, die Probleme der Gleichheit im heutigen Leben. In „Weiß“ läßt sich eine Frau in Paris von ihrem schwächlichen polnischen Mann scheiden. Er fliegt als blinder Passagier nach Polen, wird auf dem Schwarzmarkt aktiv, sammelt ungeheure Reichtümer an... Wie alle Kieslowski-Filme ist „Weiß“ straff komponiert, erzählt mit ökonomischen Mitteln und sondiert ein moralisches Dilemma. Wie bei all seinen französisch finanzierten Filmen geht er mit Farbe und Ton verschwenderisch um. Im Gegensatz zu seinen früheren Filmen jedoch ist „Weiß“ komisch, besonders in seiner Darstellung des neuen kapitalistischen Polen, wo man alles kaufen kann. Leichen für vorgespiegelte Begräbnisse bezieht man gewöhnlich aus Gegenden weiter östlich.

Ich hörte einige Beschwerden, „Weiß“ hätte mit seinem angeblichen Thema Gleichheit nicht viel zu tun. Ich vermute, die „Gleichheit“ hat was mit dem moralischen Dilemma des Mannes zu tun, nachdem ihn seine Frau rausgeschmissen hat. Es geht ihm weniger darum, gleich zu werden, als vielmehr quitt. Entweder ist das eine sehr tiefe Erkenntnis oder ich sollte Kieslowskis Werbetexte verfassen. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning