Osten ist überall

■ Chantal Akermans „D'Est“ im Forum

Wenn alle anderen Berlinale- Spektakel verdröhnt sind, dann wird dieser Film noch als leises Rauschen im Kopf sein. Zu Beginn hell, ziemlich warm, im Strandbad an der Ostsee sich tummelnd, werden seine Bilder auf ihrem Weg nach Moskau immer frostiger und unmittelbarer.

Akermans Osten ist, auch wenn nicht ein einziger historisch besonders signifikanter Ort zu sehen ist, eine gezeichnete Landschaft: Von der letzten Verwüstung noch nicht genesen, von den Lagern, Bränden, dem Stalinismus, kommt schon der nächste Zusammenbruch, neue Not, Schlangestehen, Hamsterfahrten. Die Regisseurin, die ihre ersten Godard-inspirierten Filme aus Gelddiebstählen während ihrer Zeit als Kassiererin in einem New Yorker Porno-Kino finanzierte, erarbeitet sich eine Art „Passagenwerk.“ Ob „Hotel Monterey“ oder „Histoires d'Amerique“, es sind Wartehallen, Bahnhöfe und Straßenfluchten, auf denen sie erzählen kann, was ihre Geschichte ist. Habe ich „Geschichte“ gesagt? Natürlich kommt nichts zum Ende, kein Kreis schließt sich, die unzähligen Liebenden, die in „Toute une nuit“ aus Häusern treten oder Treppen hinaufgehen, sehen wir nie irgendwo ankommen; auch ob das „Rendezvous d'Anna“ jemals stattgefunden hat, wüßte ich heute nicht mehr zu sagen, aber die Gardine in diesem Hamburger Hotelzimmer könnte ich auch selbst zwischen den Fingern gehabt haben. Detailtreue, wo die zugrundeliegende Geschichte fehlt: Ackermans Mutter war in Auschwitz und hat nie davon gesprochen. Was sonst nur als eine Art Negativ- Zentrum ihre Filme strukturiert, ist hier fast physisch präsent: Aus Deutschland aufbrechend verliert der Film bei seiner Annäherung an Polen an Farbe, wie jemand, der erblaßt. Leere Straßenzüge in der Ukraine, Menschen, die mit Bündeln durch die Nacht huschen, Bahnhöfe, auf denen Müttern ihren Kindern ein Lied singen.

Andererseits hat die Filmemacherin auch, neugierig wie sie ist, „Unbesetztes“ entdeckt, Blicke in die Kamera auf dem Lenin-Prospekt am frühen Morgen, in denen nicht ein Hauch von Schüchternheit oder Koketterie zu sehen ist; ein Baum, der irgendwas Jünglingshaftes ausstrahlt; ein Paar, das Karten spielt.

Der Film ist in Super16 gedreht (arte und andere Fernsehstationen haben mitfinanziert) und sehr beweglich; gleichzeitig aber ruhig genug, um alles zu sehen und ein inneres Kurzprotokoll anzufertigen. Weil sich bei Chantal Akerman ohnehin nie ein Kreis schließt, und in diesem Fall schon gar nicht, zeigt der Film nur den Hinweg. Wir bleiben sozusagen im Osten zurück. Osten ist überall. Mariam Niroumand

Chantal Akerman: „D'Est“ (Von Osten). Frankreich/Belgien 1993, 110 Minuten. 17.2. HdKdW 11 Uhr und Delphi 16.30 Uhr, 18.2. Arsenal 20 Uhr, 19.2. Akademie 19.30 Uhr, 20.2. Centre Culturel Français 17 Uhr.