Blackout bei Zeugen

■ Sechs angeklagte "Russen-Mafiosi" bieten zirkusreifen Prozeßauftakt / Menschenraub und räuberische Erpressung

Am Abend des 5. April 1993 war die Polizei furchtbar stolz. Ein schwerbewaffnetes Sonderkommando hatte gerade im Hotel „Unter den Linden“ zwei Geiseln – Sohn und Schwiergertochter eines reichen russischen Spielbankbesitzers – befreit und ihre sechs Entführer, durchweg mutmaßliche Mitglieder der sogenannten „Russen-Mafia“, überwältigt. Wenig später fand die Polizei bei einem angeblichen Helfershelfer der Bande auch einen Teil des vom Spielbankbesitzer bereits gezahlten Lösegelds.

Es war ein filmreifes Spektakel. Allerdings hatte es einen Schönheitsfehler. Denn der mutmaßliche Kopf der Erpresserbande radelte der Polizei bei einer Ortsbesichtigung einfach weg. Er sitzt jetzt in Moskau wegen anderer Vergehen im Gefängnis. Aber immerhin, fünf der erwischten Kidnapper befinden sich noch heute in Berliner U-Haft und ebenfalls der vermutliche Helfershelfer.

Seit gestern wird ihnen nun der Prozeß gemacht. Räuberische Erpressung und Menschenraub heißt die Anklage in vier Fällen; zwei der Entführten waren nach ersten Lösegeldforderungen freigelassen worden. Die Tat sei bis ins Detail vorher in Moskau ausgeheckt worden. Aber alles sieht jetzt danach aus, daß auch das Verfahren vor der 22. Strafkammer des Landgerichts Moabit zum Spektakel wird. Denn entgegen der zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft ausgehandelten Prozeßlinie zeigten sich die Angeklagten nicht geständnisbereit. Sie widerriefen sogar die bei der Polizei gemachten ausführlichen Aussagen, wollten sich an nichts mehr erinnern und erzählten lang und breit irgendwelche Erlebnisse, die sie als Ortsunkundige bei Stadtrundfahrten durch Berlin gehabt hätten. Außerdem schoben sie alle Verantwortung auf den Entwischten und behaupteten, während der tagelang andauernden Entführungstour entweder „müde“ oder „krank“ gewesen zu sein. Nachdem schließlich ein Angeklagter ankündigte, nun endlich wirklich auspacken zu wollen, dann aber Geschichten von Gauklern unter dem Funkturm erzählte, platzte dem Vorsitzenden Richter, Friedrich-Karl Föhrig, der Kragen. „Sagen Sie Ihren Mandanten, daß wir uns nicht im Zirkus befinden“, fauchte er die Verteidiger an, „und auch, daß wir nicht dämlich sind.“ Er war so wütend, weil er das Verfahren auf nur drei Tage terminiert hatte und ihm dieser Zeitplan davonrutschte.

Nach einer Beruhigungs-Mittagspause legte er dann die neue Verhandlungslinie fest. Sollten sich die sechs Angeklagten nicht bis zum nächsten Termin, das heißt bis morgen, an ihre Geständnisversprechungen erinnern, warnte Richter Föhrig, werde er das Verfahren platzen lassen. Denn er habe noch eine weitere Anschuldigung in petto, die dann in einem neuen Verfahren gemeinsam mit dem Menschenraub und der Erpressung auf den Tisch käme. Denn fünf der Angeklagten, die allesamt in Rußland als „Ljubereskaja-Gruppe“ einschlägig bekannt sind, sollen im September 1992 in der Ukraine zwei deutsche LKW überfallen und dabei sieben Mercedes und teure Computerteile erbeutet haben. Anita Kugler