An den Grenzen des Irrealen

Das Western-Spektakel geht weiter: „Tombstone“ von George Pan Cosmatos – die neue Fassung der Geschichte einer alten Schießerei  ■ Von Karl Wegmann

Der Western war nie tot, er schläft nur manchmal etwas lang. Wenn er aufwacht, gibt er sich modern und nennt sich „Silverado“, „Erbarmungslos“, „Posse“ oder wie jetzt „Tombstone“. Kenner wissen, worum es geht. Das kleine Städtchen Tombstone in Arizona war der Ort der berühmtesten Ballerei der Geschichte des amerikanischen Westens. Am 26. Oktober 1881 trafen hier zwei spinnefeinde Gruppen aufeinander. Ihr bleihaltiger Disput (drei Tote) ging als die Schießerei am O.K. Corral in die Annalen ein und ist ein Beweis für eine alte Wahrheit: Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden auf dem Gebrauch von Gewalt aufgebaut – und die Gewalttätigkeit ist immer noch gegenwärtig.

Der Western hat dieser blutigen Geburt einer Nation ein Denkmal gesetzt. Regisseure auf der ganzen Welt lieben Western. Sergio Leone („Spiel mir das Lied vom Tod“) bemerkte einmal: „Ich kenne überhaupt keine Regisseure, die nicht früher oder später den Drang verspüren, einen Western zu drehen. Das Inszenieren eines Western ist für jeden Regisseur eine Art Doktorarbeit.“ Also Schwerstarbeit, denn, so Leone weiter, „im Western gibt ein Regisseur nichts von sich selbst im autobiographischen Sinne. Die Kräfte der persönlichen Inspiration, die in anderen Genres Erfahrungen und Erlebnisse künstlerisch transfigurieren, zählen im Western nicht. Der Regisseur muß Distanz halten und sich dabei obendrein immer bewußt bleiben, daß er sich ständig an den Grenzen des Irrealen aufhält. Es genügt oft eine winzige Manipulation, um aus einem hochdramatischen Vorgang, einem Duell zum Beispiel, eine ironische Farce zu machen und umgekehrt.“

George Pan Cosmatos („Rambo II“) hat die Italo-Western gesehen, sein „Tombstone“ beginnt wie einer: Eine ganze Hochzeitsgesellschaft wird gemeuchelt. Kaum ist die Trauung vollzogen, sind alle schon auf ihrer eigenen Beerdigung, und als der Pfarrer meckert, bekommt auch er eine Ladung Blei in den Schwarzrock. Damit ist klargestellt, daß die Bösen, die Bande um die Clanton- und Mc-Claury- Brüder, die sich „Cowboys“ nennen, wirklich verdammt böse sind. Schnitt. Auftritt der Guten: Wyatt Earp (Kurt Russell), Ex-Marshall von Dodge City, kommt mit seinen Brüdern Virgil (Sam Elliott) und Morgan (Bill Paxton) nach Tombstone. Er hat von rauchenden Colts die Schnauze voll und möchte sich in dem Kaff als Geschäftsmann niederlassen. In Tombstone trifft er auch seinen alten Freund, den zwielichtigen John „Doc“ Holliday (Val Kilmer), aber auch die „Cowboys“. Und plötzlich hat Earp wieder den Blechstern an der Lederweste und atmet bleihaltige Luft.

Cosmatos erzählt die Geschichte flott, kommt allerdings manchmal ins stolpern, wenn Anschlüsse nicht ganz logisch sind. Trotzdem versucht er dabei weitgehend bei der historischen Wahrheit zu bleiben. Das war nicht ganz einfach, denn der echte Wyatt Earp war ein großer Lügner vor dem Herrn, der seinen eigenen Mythos immer gern ins rechte Licht rückte. Immerhin läßt Cosmatos Doc Holliday nicht im O.K. Corral verrecken (wie in früheren Verfilmungen), sondern (wie im richtigen Leben) 18 Monate später an Tuberkulose sterben. Erwähnenswert wäre noch der Auftritt von Charlton Heston – „Tombstone“ ist einer der wenigen Filme, in denen er nicht seinen Oberkörper entblößt – und Robert Mitchum, der in der Orginalfassung als Erzähler zu hören ist.

Sam Peckinpah (1925 bis 1984) hat über „The Wild Bunch“, seinen definitiven Film über die verlorenen Helden des späten Westens und über die Gewalttätigkeit Amerikas, gesagt, die Helden seiner Geschichte seien gefährliche Männer; er hasse sie, und es wäre wichtig gewesen, daß sie untergehen. Doch im gleichen Atemzug hat er ihnen seine Zuneigung bekundet: „Ich liebe diese Männer. Ich liebe Außenseiter. Wenn man sich nicht anpaßt und restlos aufgibt, ist man allein in dieser Welt. Wenn man aufgibt verliert man seine Unabhängigkeit als Mensch. Deshalb bin ich für die Einzelgänger. Ich bin nichts weniger als ein Romantiker, und ich habe eine große Schwäche für Verlierer großen Stils und eine heimliche Liebe für alle Misfits und Drifter dieser Welt.“ Obwohl sich Peckinpah und auch Leone oft und zu recht nicht daran gehalten haben, so lautet doch ein Gesetz des Western: Die Bösen beißen ins Gras, und die Guten werden zu Helden, um die sich dann fortan Mythen, Legenden und neue Filme ranken. Über den legendären „Gunfight at the OK Corral“ gibt es Dutzende, und „Tombstone“ ist nicht der schlechteste. Der echte Wyatt Earp hat nie einen dieser Western gesehen. Er starb 1929 in Los Angeles, drei Jahre vor dem ersten Film („Law and Order“ von Edward L. Cahn).

Leslie Fiedler, amerikanischer Filmkritiker, schrieb 1969 über Western: „Wenn die Gewalttätigkeit auf den Straßen eine alltägliche Angelegenheit ist, ist es paradoxerweise geradezu eine Zuflucht, sich dem Spektakel der Gewalttätigkeit zuzuwenden: Man kann sich für einen Augenblick vormachen, die Gewalttätigkeit existiere nur als Spektakel.“

Da die reale Gewalt weltweit zunimmt, wird sich auch der Western nicht wieder schlafen legen. Als nächstes kommt Kevin Costner als Wyatt Earp, dann ist da noch ein reiner „Frauenwestern“ in Arbeit und und und... Das Spektakel geht weiter.

George Pan Cosmatos: „Tombstone“. Mit Kurt Russell, Val Kilmer u.a.; USA 1993; 120 Min.