Mirabilis schweigt

■ Die Geschichte der Israelitischen Taubstummen-Anstalt Berlin

Rassenhygiene ist ein deutscher Begriff. Was ganz harmlos mit Blumenkreuzungen angefangen hatte, mündete Ende des 19. Jahrhunderts in Zwangssterilisationen, beispielsweise bei Taubstummen. Die Nazis bauten auf diesen Ansichten und Praktiken ihre Ideologie auf („Volkskörper“, „Gesamterbmasse“) und legitimierten damit scheinbar den Massenmord: Behinderte wurden selektiert, registriert und später exekutiert.

In „Öffne deine Hand für die Stummen“ arbeitet die Taubstummen-Anstalt in Weißensee nicht bloß die eigene Geschichte auf, sondern ordnet auch die zugrundeliegenden biologistischen Ansichten historisch ein und zeigt die Auswirkungen bis zu den Wiedergutmachungsprozessen nach 1945. Die Nationalsozialisten erachteten das Leben Behinderter als unwert. Die Angehörigen der Taubstummen-Anstalt Weißensee waren zudem noch jüdischer Abstammung. Erzählt man die Geschichte dieser Einrichtung, ergibt es sich wie von selbst, das Ende vorwegzunehmen: Nach dem Verbot aller jüdischen Schulen Berlins am 26.6. 1942 wurde die Anstalt geschlossen. Danach lebten dort noch 24 Blinde und Gehörlose sowie drei Betreuer. Sie wurden am 15.9. 1942 nach Theresienstadt deportiert.

Begonnen hatte alles mit der Initiative eines Mannes namens Markus Reich. Ausschlaggebend für seinen Wunsch, Taubstummenlehrer zu werden, war die Begegnung mit einem sprechenden gehörlosen Mann. Die damals bestehenden Einrichtungen waren alle konfessionell gebunden, eine jüdische gab es nicht. Reich sammelte Spendengelder, und im Juli 1873 wurde in Fürstenwalde/Spree die Israelitische Taubstummen-Anstalt gegründet. Sieben Kinder wurden aufgenommen, fünf von ihnen hatten Freiplätze inne, das heißt, Aufenthalt und Unterricht waren kostenlos. Die Betreuung mittelloser Kinder war und blieb wichtiger Grundsatz der Anstalt.

Die Nachfrage war groß. Als genug Spenden beisammen waren, zogen sie 1889 nach Berlin-Weißensee in ein kleines Haus in der Parkstraße. Bis zu 58 SchülerInnen (1930) aus dem In- und Ausland wurden hier von fünf LehrerInnen unterrichtet. Reichs Schwester Anna und seine Frau Emma, die beide fachlich ausgebildet waren, arbeiten mit – ein Familienunternehmen. 1919 übernahm Markus Reichs Sohn Felix die Leitung der Anstalt, von ihm gingen viele innovative Ideen bezüglich der Taubstummen-Pädagogik aus. Er richtete den ersten Kindergarten sowie Sonderklassen für begabte Kinder ein. Neben der Sprecherziehung legte er besonderen Wert auf handwerkliche Ausbildung. Zu seiner Erfolgsbilanz zählt, daß über 90 Prozent der SchulabsolventInnen einen Beruf erlernten und unabhängig leben konnten.

Ein Bildteil der :Transit-Publikation zeigt dies alles sehr ausführlich und anschaulich: Kinder bei Sprachübungen, Lehrer, Aktivitäten, die Räumlichkeiten. Daneben sind viele Dokumente reproduziert, Abtransportlisten, Schriftverkehr mit Behörden, Briefe sowie Schriftstücke, die den großen Komplex der „rassehygienischen Maßnahmen“ betreffen. Neben der Rekonstruktion des vernichteten historischen und kulturellen Ortes ist „Öffne deine Hand“ ein fundierter und mit vielen Dokumenten versehener Beitrag zur Behindertenforschung.

Stofflich etwas überladen wirkt, daß als Hintergrund wohltätiger jüdischer Einrichtungen beispielsweise auch der Grundsatz der Sozialethik breit erörtert wird, der in der jüdischen Religion verankert ist. Das ist zwar inhaltlich sicher richtig und wichtig, aber insgesamt ist es einfach zuviel. Die Konzentration auf das Wesentliche geht dabei leider verloren. Caroline Roeder

„Öffne deine Hand für die Stummen“ – Die Geschichte der Isrealitischen Taubstummen-Anstalt Berlin-Weißensee 1873 bis 1942. 192 Seiten, :Transit Verlag, 38 DM.