■ Wodurch unterscheidet sich Haiti von Bosnien?
: Aristides letzte Chance

Was haben die Menschen in Haiti und Bosnien gemeinsam? Eine lange Kette gebrochener Versprechen der internationalen „Völkermeinschaft“ – allen voran der westlichen Nationen. Was unterscheidet sie? Im Gegensatz zu Bosnien fehlen in Haiti die Fernsehkameras und das strategische Potential, den Konflikt über die Grenzen des Landes auszuweiten. Im Gegensatz zu Bosnien kommt der Aggressor in Haiti aus dem eigenen Land und ist zum Genozid deshalb nicht bereit, weil er das eigene Volk zum Ausbeuten braucht.

Natürlich würde Bill Clinton gerne die Demokratie in Haiti wiederhergestellt sehen – vorausgesetzt, sie ist nicht mit größeren ökonomischen Reformen verbunden. Natürlich ist er angewidert und empört über die Todesschwadronen von Polizei und Militär, die nach Belieben in den Slums von Port-au-Prince Menschen ermorden. Rund 4.000 sind seit dem Putsch im September getötet worden. Doch es gibt, genau betrachtet, keinen zwingenden Grund, der die USA zu konsequenterem Handeln gegen die Machthaber in Port-au-Prince veranlassen würde. Denn Haiti hat keine außenpolitische Priorität und keine strategische Bedeutung – solange nicht haitianische Flüchtlinge an der Küste Floridas Haiti wieder zu einem amerikanischen Problem mit Priorität machen. Dieses Problem schien bis zuletzt kontrollierbar: durch die Seeblockade Haitis und durch das stillschweigende Abkommen mit dem haitianischen Präsidenten und Exilanten Jean-Bertrand Aristide, die eigenen Landsleute regelmäßig per Radio von Fluchtgedanken abzubringen – und die USA nicht öffentlich für ihre rechtswidrige Zurückweisungspolitik zu kritisieren.

Dieses Agreement ist von seiten Aristides gebrochen worden – nicht nur aus taktischen, sondern auch aus moralischen Gründen. Er wollte einfach nicht mehr im Washingtoner Exil stillschweigend vor dem Fernseher zur Kenntnis nehmen, wie an der Küste Floridas immer wieder Leichen haitianischer Boat people aus dem Wasser gezogen werden, die nicht nur den Militärs im eigenen Land, sondern auch noch der US-Küstenwache entkommen müssen. Gleichzeitig ist dieser Schritt möglicherweise Aristides letzte Chance. Er weiß, daß die USA mittlerweile bereit sind, seine Rückkehr nur noch als pseudodemokratische Dekoration für einen Kompromiß mit den Militärs und Haitis Wirtschaftselite zu verhandeln, der den politischen Status quo in diesem Land unangetastet läßt. Er weiß auch, daß die Clinton-Administration keinen Finger mehr für ihn rühren wird, wenn er erst einmal nach Haiti zurückgekehrt ist. Die Flüchtlinge sind seine letzte politische Trumpfkarte. Andrea Böhm, Washington